Das wir gewinnt

Digitalisierung ist eine Herausforderung, die wir für alle Schüler*innen annehmen müssen 

Individualisierung ist ein Schlüsselbegriff, wenn es um das Lernen in heterogenen Gruppen geht. Früher bedeutete das für Lehrkräfte auch mal, Arbeitsblätter auseinanderzuschneiden und die Aufgaben neu angeordnet wieder zusammenzukleben. Hauke Behrens, Lehrer und didaktischer Leiter an der Waldschule Hatten, ist froh, diese Zeiten hinter sich gelassen zu haben. Im Interview berichtet er von der Entlastung durch digitale Medien, Knöpfchenkunde-Workshops für Eltern und vom Mut, den Fächerkanon zukunftsgerecht zu gestalten. 

Herr Behrens, warum muss Schule inklusiv gedacht werden?

Inklusion ist für mich vor allem eine Haltungs-Frage. Ich finde es spannend, wenn unterschiedliche Menschen aufeinandertreffen und man dann schaut: Was passiert da jetzt? Man sollte jeder Person Wertschätzung entgegenbringen. Es können nicht alle gleich viel und jede*r kann etwas anderes. Aber wenn man seine Stärken und seine Schwächen kennt und auch weiß, wie man konstruktiv in einer Gesellschaft damit umgeht, dann entsteht ja überhaupt erst Gemeinschaft. Das finde ich das Entscheidende. Wenn wir über Inklusion reden, haben wir meist nur Schüler*innen mit Förderbedarf im Fokus. Aber es gibt zum Beispiel auch die Geflüchteten, die eine neue Sprache lernen müssen und aus einem ganz anderen Kulturkreis kommen. Oder wenn wir an die ganze queere Bewegung denken: Das alles ist für mich Inklusion. Das ist wie ein bunter Flickenteppich. Und bunt ist ja auch schön. Es hat unheimlich viel kreatives Potenzial, das sich wie ein Blumenstrauß entfalten kann. Natürlich ergeben sich daraus auch Herausforderungen für die praktische Ebene. Aber ich glaube, letztendlich macht Inklusion das Leben auch spannend. Und ganz oft sind es gerade die Herausforderungen, die ganz lange in meinem Gedächtnis bleiben und die mich in meiner Arbeit immer wie ein Kompass führen und begleiten.

Wie können digitale Medien dazu beitragen, Inklusion in der schulischen Bildung umzusetzen?

Unsere Schüler*innen mit Förderbedarf sind so individuell. Digitale Angebote haben den Vorteil, dass wir dieser Individualität besser Rechnung tragen können. Wir hatten zuvor versucht, Lehrwerke zu differenzieren und haben gemerkt: Wir können unsere Förderschüler*innen damit gar nicht erreichen, weil jede*r ein persönliches Päckchen zu tragen hat. Der eine kann fast zielgleich mitarbeiten, die andere muss ganz individuell gefördert werden, um Anschluss zu bekommen. Die digitalen Angebote erlauben individuelles Lernen ohne viel Zeitaufwand für alle Schüler*innen. Es ist ein großer Vorteil, wenn ich eine Material-Datenbank und Aufgabenvorschläge habe. Dann muss ich nicht so viele Lehrwerke oder Arbeitshefte von unterschiedlichen Verlagen sichten. Und davon passt vielleicht nur eine Aufgabe und ich muss das Arbeitsblatt dann auch noch auseinanderschneiden. Damals, als wir noch keine Tablets hatten, hatte ich eine Schwerpunkt-Klasse. Ich habe mit großem Aufwand praktisch alle Arbeitsblätter zusammengeschnitten. Es ist ein Qualitätsgewinn, den Prozess jetzt so individualisieren zu können. Es ist zwar mehr Aufwand, Aufgaben zuzuweisen und den Lernprozess zu individualisieren. Aber wenn man mal eine Basis hat, ist es machbar!

Was waren die wichtigsten Schritte auf dem Weg zu einer digitalen, inklusiven Schule?

Als wir mit Tablets in die Jahrgänge ab der Klasse 7 gingen, mussten wir uns erst einmal auf diese neue Realität einstellen. Entscheidend war, dass wir schon früh ein Digital-Team geschaffen haben. Anfangs bestand es aus engagierten Kolleg*innen, die Mehrarbeit in Kauf genommen haben. Das ist sicherlich ein Problem an manchen Schulen: Sie kommen nicht weiter, da es keine Lehrer*innen gibt, die das zusätzlich freiwillig machen.

Irgendwann gab es zum Glück die Möglichkeit, Funktions-Stellen zu schaffen. Wir haben uns dann dafür entschieden, im Bereich Digitales gleich fünf Stellen zu schaffen. Wir fanden es wichtig, dass IServ betreut ist, dass die Einbindung der Geräte funktioniert und so weiter. Das Administrative ist sehr viel Arbeit, das kann man dem Kollegium nicht zumuten. Da muss es Professionen geben. Dann stellte sich heraus: Wir brauchen weitere Funktionsstellen, zum Beispiel für Inklusion. Es war wichtig, die Koordinationsarbeit so auch zu würdigen.

Mittlerweile müssen die Kolleg*innen keine technische Verantwortung mehr übernehmen. Die Geräte werden betreut, IServ funktioniert. Die Kolleg*innen müssen sich nicht darum kümmern, dass die Schüler*innen eingepflegt werden oder dass die Module da sind. Und wenn man ein Problem hat, dann kann man jemanden fragen. Für die Kollegen*innen ist das eine große Entlastung.

Lehrer Hauke Behrens sitzt an einem Tisch. Ihm Gegenüber und nur unscharf von hinten zu sehen ist eine weitere Person mit Laptop vor sich.

Hauke Behrens

... ist Lehrer und didaktischer Leiter an der Waldschule Hatten. Da seine Schule zu den bundesweiten Vorreitern in Sachen digitale Bildung zählt, sind Tablets und Smartboards schon lange fester Bestandteil seines Schulalltags. Als didaktischer Leiter ist er dafür verantwortlich, das Digitalkonzept der Schule stetig weiterzuentwickeln und mit der inklusiven Ausrichtung der Schule zu verknüpfen.

Es gibt eine Übereinkunft im Kollegium, dass die Digitalisierung eine Herausforderung ist, die wir annehmen müssen.

Hauke Behrens, Lehrer und didaktischer Leiter an der Waldschule Hatten

Wie haben Sie es geschafft, alle Lehrkräfte im Kollegium mitzunehmen? 

Im Kollegium gab es schon seit vielen Jahren einen gewissen Druck, sich mit dem Thema Digitalisierung zu beschäftigen. Deshalb waren niedrigschwellige Fortbildungsangebote wichtig. Dabei sollte es um verschiedene Themen gehen: Welche Apps gibt es? Wie nutzt man sie? Wann setzt man sie ein? Wir haben relativ früh mit dem Fortbildungs-Karussell angefangen. Dann ist daraus irgendwann „Sofa“ entstanden. „Sofa“ bedeutet: selbst organisiertes Fortbildungsangebot. Viele Kolleg*innen bieten hier Mini-Fortbildungen in Form kleiner Videos an. Die kann man sich auch zuhause angucken. Wenn man jetzt zum Beispiel sagt: Ich will morgen mit Notability arbeiten, kann man sich im Video anschauen, wie das geht. 

Jede*r hat sich so auf den Weg gemacht. Wer im digitalen Bereich affin ist, hat natürlich einen Erfahrungsvorsprung. Aber wir können sagen, wir haben einen gemeinsamen Grundstock, eine Basis-Kompetenz bei allen. Dadurch funktioniert es. Auch neue Kolleg*innen profitieren davon. Niemand spart den Bereich Digitales mehr komplett aus. Es gibt eine Übereinkunft im Kollegium, dass die Digitalisierung eine Herausforderung ist, die wir annehmen müssen.

Wie haben Sie die Eltern in den Digitalisierungsprozess der Schule mit einbezogen?

Wir haben tatsächlich auch Fortbildungen für die Eltern angeboten, um Unsicherheiten zu nehmen. Das war zum Beispiel „Knöpfchenkunde“ für das Tablet und dann Basics wie: Wie benutzt man Pages? Wie nutzt man Keynote als Präsentationsprogramm? Das Ziel war, dass auch Eltern helfen und beraten können, wenn ihre Kinder eine Frage haben. Für uns ist es wichtig, dass der Input nicht nur aus der Schule kommt, sondern dass die Kinder auch zuhause nicht alleingelassen werden.

Was sind die zukünftigen Herausforderungen für Ihre Schule?

In den letzten zehn Jahren ist thematisch immer mehr hinzugekommen. Es gibt viel Dynamik: Vor 20 Jahren haben wir noch nicht über Medien-Prävention gesprochen. Wir haben nicht über Digitalisierung oder digitale Ethik nachgedacht. Es gibt unheimlich große gesellschaftliche Herausforderungen. Als Schule haben wir gemerkt, dass wir unseren Bildungskanon komplett entrümpeln müssen. Und dass wir einen Common Sense entwickeln müssen: Was wollen wir eigentlich? Wie wollen wir die Kinder aufs Leben vorbereiten? Wie gehen wir mit Fake News, Cybermobbing und diesem ganzen Problembereich um? Und wie übertragen wir das in unseren Fächerkanon und in die Arbeitspläne? Welche Kompetenzen möchten wir vermitteln? Das bleibt glaube ich ein herausfordernder Prozess, der uns auch in den nächsten Jahren noch begleiten wird.

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