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Neues Betreuungsgesetz: Mehr Selbstbestimmung ab 2023 

Zum 1. Januar 2023 ist das reformierte Betreuungsgesetz in Kraft getreten, das die Selbstbestimmung von rund 1,3 Millionen betreuten Menschen in Deutschland stärken soll. Die wichtigsten Änderungen im Überblick.

Eine Frau und ein Mann mit geistiger Behinderung sitzen lächelnd nebeneinander. er macht ein Victory-Zeichen

Wenn ein erwachsener Mensch durch eine andere Person in Angelegenheiten vertreten wird, die er selbst nicht regeln kann, spricht man von einer „rechtlichen Betreuung“. Der Grund dafür können psychische Krankheiten oder verschiedene Behinderungen sein.

Nach Angaben des Bundesverbands der Berufsbetreuer*innen sind etwa 53 Prozent der Betreuer*innen Familienangehörige und andere Ehrenamtliche. In rund 47 Prozent der Fälle werden Berufsbetreuer*innen bestellt. Diese Zahlen stammen allerdings aus dem Jahr 2016. Ein Gericht bestimmt vor einer Betreuung im Einzelfall, für welche Aufgabenbereiche ein Betreuer oder eine Betreuerin bestellt wird: zum Beispiel für Vermögensangelegenheiten oder für die Gesundheitssorge. 
Zuletzt war das Betreuungsrecht 1992 reformiert worden und hatte das bis dahin geltende Vormundschaftsrecht abgelöst hat. Seitdem gibt es für volljährige Menschen keinen Vormund mehr, sondern Betreuer*innen. Sie sollen die betreuten Menschen in den Bereichen unterstützen, in denen es nötig ist. 

Warum wurde das deutsche Betreuungsrecht reformiert?

In den letzten Jahren hatten Verbände und Interessensvertretungen von Menschen mit Behinderung weitere Reformen des Betreuungsrechts gefordert. Der UN-Fachausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderung hatte 2015 zudem festgestellt: Das deutsche Betreuungsrecht ist nicht vereinbar mit der UN-Behindertenrechtskonvention. Denn das Selbstbestimmungsrecht von Menschen, die mit Betreuung leben, wird durch das geltende Recht eingeschränkt. Vor allem, dass stellvertretende Entscheidungen für betreute Menschen betroffenen werden können, wurde vom UN-Fachausschuss bemängelt. Ein weiterer Kritikpunkt war die Option von Zwangsmaßnahmen als Ultima Ratio, zum Beispiel im Bereich der Psychiatrie. Zudem forderte der UN-Ausschuss Konzepte, um Menschen bei ihren eigenen Entscheidungsfindungsprozessen besser zu unterstützen. 

Expert*innen und Verbände waren einbezogen

Vor der Verabschiedung des neuen Gesetzes am 5. März 2021 im Deutschen Bundestag hatte das Ministerium für Justiz und Verbraucherschutz viele Expert*innen von Verbänden und Interessensvertretungen von Menschen mit Behinderung, aus dem Betreuungswesen, der Wissenschaft und anderen Bereichen einbezogen. Forschungsvorhaben wurden in Auftrag gegeben, Fachgruppen berieten und zahlreiche Verbände gaben Stellungnahmen ab.

Die stärkere Orientierung am Wunsch und Willen der betreuten Personen:

Betreuer*innen, haben die Pflicht, Menschen bei selbstbestimmten Entscheidungen zu unterstützen. Der eigene Wunsch und Wille soll im Mittelpunkt stehen. Stellvertretende Entscheidungen sollen die Ausnahme sein.

Eingrenzung der Betreuung:

Künftig soll vor einer Betreuung festgestellt werden, in welchen Bereichen der oder die Betreute Unterstützung braucht. 

Keine „Wohl-Schranke“ mehr:

Entscheidungen für Menschen, die ihre Wünsche und ihren Willen nicht (mehr) selbst ausdrücken können, müssen sich an ihrem mutmaßlichen Willen ausrichten. Und nicht mehr danach, was von außen betrachtet „zu ihrem Wohle“ wäre. 

Mehr Mitsprache und Kontakt:

Menschen mit Betreuung werden stärker als bisher in die Prozesse der Betreuung einbezogen. Beide Seiten sollen sich vor einer Betreuung kennenlernen. Mehr als bisher sollen die Wünsche der Betreuten berücksichtigt werden, wer Betreuer*in wird (oder nicht wird). Betreuer*innen sollen auch regelmäßigen persönlichen Kontakt halten und jährlich einen Bericht verfassen, der auch mit den Betreuten besprochen werden soll. 

Keine Zwangssterilisationen:

Die Sterilisation einer betreuten Person gegen ihren Willen ist nicht mehr möglich. Es reicht nicht mehr aus, dass sie einer Sterilisation lediglich nicht widerspricht. 

Änderungen für Betreuer*innen: 

Berufsbetreuer*innen müssen sich künftig bei einer Betreuungsbehörde registrieren lassen und Fachkenntnisse nachweisen. Ehrenamtliche Betreuer*innen, die keine familiäre oder persönliche Bindung zur betreuten Person haben, sollen sich an einen Betreuungsverein anschließen, der sie beraten und fortbilden kann. 

Stärkung Betreuter vor Gericht: 
Anders als im jetzigen Recht können betreute Personen selbst bei Gericht Erklärungen abgeben, Anträge stellen oder gegen Gerichtsentscheidungen vorgehen. Briefe vom Gericht oder von Behörden gehen nicht nur an die Betreuer*innen, sondern auch an die Betreuten selbst.

 

Reformen begrüßt

Viele Verbände und Interessensvertretungen von Menschen mit Behinderung begrüßten das neue Gesetz als wichtigen Schritt, um die Selbstbestimmung betroffener Menschen zu stärken. Im Detail allerdings hätten sich manche noch weitergehende Schritte gewünscht, zum Beispiel verstärkte Maßnahmen, um mehr Betreuungen ganz vermeiden zu können. Auch die verbindliche Einrichtungen von Fachstellen zur Weiterentwicklung von Methoden der Unterstützten Entscheidungsfindung hatten verschiedene Verbände gefordert.  

Wir haben für Sie vier kritische Perspektiven auf das neue Gesetz zusammen getragen: Lesen Sie Meinungen zum neuen Betreuungsrecht und was sich künftig in der Praxis ändert wird aus Sicht von Betroffenen, Angehörigen, Berufsbetreuern und der Wissenschaft.  

 
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Vier Meinungen zum neuen Betreuungsrecht

Porträt einer lächelnden Frau mittleren Alters

Aus Sicht von Angehörigen

Kerrin Stumpf ist Geschäftsführerin von „Leben mit Behinderung Hamburg Elternverein e.V.“ und betroffene Mutter. Sie meint: Eltern und Angehörige brauchen jetzt Information und Qualifikation. 
Porträt eines lächelnden Mannes im mittleren Alter

Aus Sicht von Berufsbetreuer*innen

Harald Freter ist Geschäftsführer des Bundesverbands der Berufsbetreuer/innen. Er begrüßt das neue Gesetz, sagt aber: Der damit verbundene Mehraufwand für Betreuer*innen muss bezahlt werden. 
Porträt einer jungen. lächelnden Frau

Aus Sicht der Wissenschaft 

Jana Offergeld hat zum Thema rechtliche Betreuung promoviert und meint: In Bezug auf die Umsetzung der UN-BRK verbessert das neue Gesetz schon einiges - aber weitere Änderungen wären noch nötig. 
Ein lachender Mann mittleren Alters steht in einem Garten

Aus Sicht von Betroffenen

Carsten „Casi“ „Cassandra“ Wiegel engagiert sich als Selbstvertreter für die Belange von Menschen, die mit Betreuung leben. Er ist psychiatrisch erfahren und sagt: Betreue Menschen sollen noch stärker einbezogen werden.