Angehörige: „Sie müssen sich fragen, was zu ihrer Aufgabe gehört“
Die Juristin Kerrin Stumpf ist Geschäftsführerin von „Leben mit Behinderung Hamburg Elternverein e.V.“ Sie engagiert sich auch als Vorstandsmitglied im Bundesverband für körper- und mehrfachbehinderte Menschen (bvkm) und ist betroffene Mutter.
Was ist aus der Sicht von betreuenden Angehörigen positiv am neuen Gesetz?
Sehr richtig ist die Betonung der Selbstbestimmung und die Orientierung am Willen. Positiv ist auch, dass keine Betreuung mehr „in allen Angelegenheiten“ eingerichtet wird. Die Betreuung in einzelnen notwendigen Aufgabenbereichen bedeutet für Angehörige: Sie müssen sich fragen, was zu ihrer Aufgabe gehört und was nicht. Außerdem wird im Vorfeld geprüft, ob ein Mensch wirklich betreut werden muss oder ob es andere Unterstützungsmöglichkeiten gibt.
Welche neuen Herausforderungen kommen auf Angehörige als Betreuer*innen zu?
Man ist ja erst einmal Vater, Mutter, Bruder oder Tochter. Als Betreuer*in soll ich den Willen des Menschen aber auch dann ausführen, wenn ich mir als Angehörige Sorgen um ihn mache. Wenn ich das Gefühl habe: Das könnte nachteilig sein. Deswegen ist es für Angehörige wichtig, sich für eine gute Amtsausübung jetzt fortzubilden. Es gibt auch die Meinung: Eigentlich sollten Eltern besser gar nicht die rechtliche Betreuung übernehmen, weil sonst die elterliche Sorge ununterbrochen fortgeführt werden. Kritisch finde ich, wenn Menschen mit einem rechtlichen Unterstützungsbedarf dazu bewegt werden, Vollmachten zu unterschreiben. Eine Vollmacht muss eine freie Entscheidung sein. Im neuen Betreuungsrecht prüft das Gericht: Hast Du den Menschen selber entscheiden lassen oder gut einbezogen? Hast Du Dich leiten lassen von seinem eigenen Willen?
Welche Unterstützung brauchen Angehörige für ihre Aufgabe als Betreuer*innen?
Eltern benötigen Informationen: Was steht im Gesetz? Was sind meine Pflichten und Aufgaben? Man braucht Veranstaltungen und Fortbildungen, um Fragen zu klären und offen über die Probleme zu sprechen. Betreuungsvereine bieten Eltern die Möglichkeit, sich fachlich zu qualifizieren. Sie lernen, Selbstbestimmung Raum zu geben mit guter Unterstützung und Risiken zuzulassen. Wenn jemand sagt: Ich will ein Handy. Ich will allein in einer Wohnung leben und frei unterwegs sein. Das kann auch mal gefährlich werden. So etwas müssen alle rechtliche Betreuer*innen aushalten und regeln können.
Was fehlt aus Ihrer Sicht?
Wir hatten mit dem BVKM eine Bundesfachstelle für die eigene rechtliche Handlungsfähigkeit gefordert. Dort sollte es Unterstützung geben für Menschen mit viel Assistenz, zum Beispiel in der Kommunikation. Für sie braucht es Methoden, wie man Entscheidungen unterstützen kann. Das eine ist es, ins Gesetz zu schreiben: Der Mensch entscheidet jetzt selbst. Das andere ist die Frage: Was bedeutet das praktisch? Leider ist der Gesetzgeber diesem Vorschlag nicht gefolgt. Ich hoffe, dass das ab 2023 noch einmal neu diskutiert wird. Und dass insgesamt das neue Gesetz nach einiger Zeit evaluiert wird, um zu schauen, was nachgebessert werden muss.