Wissenschaft: „Bisher fühlen sich Betreute selten bei Entscheidungen unterstützt“
Jana Offergeld ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Deutschen Institut für Menschenrechte in Berlin. Sie hat am Bochumer Zentrum für Disability Studies zum Thema Selbstbestimmung und rechtliche Betreuung promoviert.
In Ihrer Dissertation haben Sie rechtliche Betreuung aus der Perspektive von Menschen mit Lernschwierigkeiten untersucht. Was haben Sie heraus gefunden?
Am Zentrum für Disability Studies habe ich mich mit der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention beschäftigt. Ich wollte untersuchen: Inwiefern werden Menschen durch Betreuung bei ihren Entscheidungen und bei der Ausübung ihrer Selbstbestimmung unterstützt? Oder inwiefern werden Entscheidungen stellvertretend für sie getroffen?
In diesem Diskurs fehlt bisher die Stimme der betreuten Menschen selbst, vor allem die der Menschen mit Lernschwierigkeiten. Deshalb habe ich Kontakt aufgenommen zu Mensch Zuerst, einer Selbstvertretung von Menschen mit Lernschwierigkeiten. Ich habe das Thema partizipativ mit ihnen erforscht und auch Schulungen zum Thema Betreuung durchgeführt. Ich wollte wissen: Wie erleben Menschen ihre rechtliche Betreuung? Es zeigte sich: Viele sehen sie durchaus als Unterstützung an, insbesondere bei der Verwaltung der eigenen Finanzen und bei der Kommunikation mit Behörden. Sehr selten fühlen sie sich aber bisher in ihren eigenen Entscheidungsprozessen unterstützt. Vor allem Menschen, die in besonderen Wohnformen leben, sehen ihre Betreuer*innen selten. Vertrauen kann so nicht aufgebaut werden. Wenige wissen, welche Aufgabenbereiche ihre eigene Betreuung eigentlich hat. Hier gibt großen Beratungsbedarf.
Kann die Reform des Betreuungsrechts diese Missstände beheben?
Das Gesetz hält auf jeden Fall viele Chancen bereit. Es ist auch begrüßenswert, dass betreute Menschen zumindest im Rahmen eines Workshops an der Entwicklung der Reform beteiligt wurden. Ihre Beteiligung hätte aber noch stärker ausfallen sollen. Das neue Gesetz verstärkt die Orientierung am Willen von betreuten Menschen. Ich bin gespannt, ob die Bewusstseinsbildung dafür bei Betreuer*innen und Betreuten gelingt.
Was ist nötig, um diese Bewusstseinsbildung zu fördern?
Ich denke, die von vielen Verbänden geforderte Bundesfachstelle für unterstützte Entscheidungsfindung wäre wichtig – oder auch mehrere dezentrale Stellen. Hier könnten betreute Menschen selbst, aber auch Betreuer*innen und Angehörige Beratung bekommen. Wichtig fände ich auch eine unabhängige Beschwerdestelle für betreute Menschen, die das Gefühl haben, dass ihre Rechte verletzt werden. Die Betroffenen wissen heute oft nicht, an wen sie sich wenden können.
Wo sehen Sie noch Defizite?
Das Thema Zwang wurde in der Reform komplett ausgeklammert. So bleibt es zum Beispiel bei Zwangsbehandlung oder Zwangsunterbringung im psychiatrischen Bereich als Ultima Ratio. Ich denke, da müsste man noch einmal ran und den Blick auf Alternativen zu Zwangsmaßnahmen schärfen. Das ist zwar ein sehr komplexes Thema. Aber es gibt schon gute Ansätze, die mit psychiatrieerfahrenen Menschen gemeinsam entwickelt wurden.