Barrierefreiheitsstärkungsgesetz in der Kritik
Die Verabschiedung des Barrierefreiheitsstärkungsgesetzes hat bei Behindertenverbänden und Betroffenen für Kritik gesorgt. Doch worum geht es im Gesetz überhaupt und welche Aspekte werden kritisiert?
Am 20. Mai 2021 wurde im deutschen Bundestag das sogenannte Barrierefreiheitsstärkungsgesetz verabschiedet. Es setzt den European Accessibility Act (EAA), der am 28. Juni 2019 in der EU in Kraft trat, in deutsches Recht um. Der EAA ist eine europäische Richtlinie, durch die der barrierefreie Zugang zu allen Bereichen des Lebens für Menschen ermöglicht werden soll.
Ziele des European Accessibility Act
Das besondere an europäischen Richtlinien: Im Gegensatz zur EU-Verordnung finden sie nicht automatisch in den Mitgliedsländern Anwendung. Die einzelnen europäischen Länder müssen zur Umsetzung eigene Gesetze aus der Richtlinie erlassen. Nicht die ursprüngliche Richtlinie, sondern die nationale Gesetzgebung gilt. Im Fall des EAA sind die Mitgliedsländer dazu verpflichtet bis zum 22. Juni 2022 ein Gesetz zu erlassen, das den barrierefreien Zugang zu folgenden Produkten und Dienstleistungen ermöglichen soll:
- Onlinehandel
- Dienstleistungen im elektronischen Geschäftsverkehr und im Bereich Reisen/Mobilität für Websites
- Bankdienstleistungen wie Kartenlesegeräten oder Geld- und Bankautomaten
- Hardwaresystemen, wie E-Books, sowie der dazugehörigen Software
- Elektronischen Kommunikationsdiensten und Verbraucherendgeräten (beispielsweise Telefone oder Router)
- Audiovisuellen Medien (einschließlich On-Demand Dienste)
- Personenverkehrsdiensten bei Bahn, Bus, Flug und Schifffahrt (beispielsweise Ticketautomaten)
Bis 2025 müssen diese Maßnahmen umgesetzt werden. Allerdings gibt es eine Reihe von Ausnahmeregelungen, zum Beispiel für kleinere Unternehmen.
Kritik am Barrierefreiheitsstärkungsgesetz
Durch die Umsetzung des European Accessibility Act in nationales Recht versprechen sich Behindertenverbände europaweit einen großen Schritt in Richtung einer inklusiveren Gesellschaft. Doch das Barrierefreiheitsstärkungsgesetzes ist für die hiesigen Fachverbände wie den Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverband eine mutlose Minimalumsetzung der europäischen Vorgaben. Ihnen geht die Umsetzung nicht weit genug und sie ermögliche zu viel Ausnahmen.
Barrierefreiheit auf der langen Bank
Neben den Ausnahmeregelungen stehen vor allem die langen Übergangsfristen in der Kritik. „Mit derart langen Übergangsfristen kommen wir einer inklusiven Gesellschaft nur im Schneckentempo näher“, kritisiert Verena Bentele, Präsidentin des Sozialverband VdK.
Ein Beispiel dafür ist die Barrierefreiheit von Bankautomaten. Bis zum Jahr 2025 müssen bereits aktive Automaten barrierefrei eingerichtet sein – neue, nicht barrierefreie Automaten, die bis 2025 aufgestellt werden, jedoch erst bis 2040. Das NETZWERK ARTIKEL 3 spricht in einer „Amtlichen Bekanntmachung“ davon, dass damit der Lockdown für Menschen mit Behinderung bis 2040 verlängert wird.
Auch Dr. Sabine Bernot von der Monitoring-Stelle UN-Behindertenrechtskonvention des Deutschen Instituts für Menschenrechte kritisiert die langen Fristen. Erfahrungen zeigten, dass solche Fristen bis zum Ende ausgenutzt würden. „Bis 2030 sollte alles barrierefrei sein“, fordert sie.
Die bauliche Umwelt bleibt komplett außen vor. Menschen mit Behinderungen stehen immer wieder vor Barrieren, die sie nicht überwinden können.
Barrierefreier Zugang nicht gesetzlich geregelt
Darüber hinaus sichert das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz nicht den Zugang zu einem Gebäude, in dem beispielsweise ein barrierefreier Bankautomat steht. „Die bauliche Umwelt bleibt komplett außen vor. Was nutzt den Menschen ein barrierefreier Fahrkartenautomat, der nur über Stufen zu erreichen ist? Treppen, enge Türen, kaputte oder nicht vorhandene Fahrstühle sind bittere Realität. Gerade in der Privatwirtschaft und bei Bestandsbauten gibt es einen enormen Nachholbedarf. Menschen mit Behinderungen stehen immer wieder vor Barrieren, die sie nicht überwinden können. Da muss endlich etwas geschehen“, betont Verena Bentele.
Umsetzung von Barrierefreiheit: Mangelnde Übersichtlichkeit und Handhabe
Behindertenverbände kritisieren außerdem die Uneinheitlichkeit, mit der die im Barrierefreiheitsstärkungsgesetz festgelegten Maßnahmen umgesetzt werden. Dies sei auf die Länderzuständigkeit zurückzuführen. Sie fordern daher starke Instrumente zur rechtlichen Umsetzung. Verbände sollten die Möglichkeit der Klage gegen Wirtschaftsakteure, die die Auflagen des Gesetzes nicht erfüllen, erhalten. Außerdem müssten finanzielle Mittel für eine systematische Marktbeobachtung durch Verbraucherschutzorganisationen und für den Ausbau von Expertise in diesem Bereich zur Verfügung gestellt werden. Nur so könne sichergestellt werden, dass die Barrierefreiheit von Produkten und Dienstleistungen dauerhaft gewährleistet sei.
Barrierefreiheitsstärkungsgesetz: So geht es weiter
Trotz der umfassenden Kritik von Betroffenen und Behindertenverbänden verabschiedete der Bundestag am 20. Mai 2021 das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz. Damit geht dieses nun, im nächsten Schritt der Gesetzgebung, an den Bundesrat. Da es sich beim Barrierefreiheitsstärkungsgesetz um ein einfaches Einspruchsgesetz handelt, muss dieser dem Gesetz nicht zustimmen und kann lediglich Einspruch dagegen erheben. Dieser Einspruch kann jedoch mit einer Mehrheit der Abgeordnet aus dem Bundestag überstimmt werden. Beschließt der Bundestag das Gesetz im Laufe der aktuellen Legislaturperiode, tritt das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz, wie im European Accessibility Act festgelegt, am 28. Juni 2025 in Kraft.