Inklusion im Breitensport: "Der Hype ist vorbei, jetzt müssen wir die Bemühungen aufrechterhalten"
Univ.-Prof. Dr. Thomas Abel von der Deutschen Sporthochschule Köln erklärt im Interview, wie inklusiv Sport in Deutschland ist – und wie er noch inklusiver werden kann.
Auf einer Skala von 1 bis 10, wie weit sind wir mit der Inklusion im Sport in Deutschland insgesamt?
Bei dieser spannenden Frage muss ich differenzieren. Für das Thema „Inklusion im Sport“ gebe ich uns im Großen und Ganzen sechs von zehn Punkten, denn wir sind schon weit gekommen. Die Haltung zum gemeinsamen Sport von Menschen mit und ohne Behinderung hat sich deutlich verändert, auch die Wahrnehmung und der Bekanntheitsgrad der Thematik. Wir verfügen zudem über deutlich mehr Räume, in denen wir uns begegnen können.
Wenn ich mir allerdings anschaue, wie viele Menschen mit Behinderung tatsächlich am Breitensport teilnehmen, muss ich die sechs Punkte leider auf vier oder sogar zwei korrigieren. Der Bundesteilhabebericht des letzten Jahres zeigt, dass nur 32 Prozent der Menschen mit Behinderung regelmäßig Sport machen, unter den Menschen ohne Behinderung sind es 48 Prozent. Ganze 55 Prozent der Menschen mit Behinderung geben an, gar keinen Sport zu treiben.
Wir wissen, dass Menschen mit Behinderung die Liebe zum Sport mit den Menschen ohne Behinderung teilen. Dass wir trotzdem diese Differenz in den Zahlen sehen, ist eine sehr negative Offenbarung. Unter uns gibt es viele Menschen, denen der Zugang zum Sport verwehrt wird oder die ihn erst gar nicht finden.
Wie steht Deutschland beim inklusiven Sport im internationalen Vergleich da?
Im globalen Vergleich gar nicht so übel, denn viele Länder ermöglichen Menschen mit Behinderung gar keine Teilhabe gemäß Artikel 30 der UN-Behindertenrechtskonvention. Sobald wir Deutschland aber mit Ländern vergleichen, die einen ähnlichen sozioökonomischen Status haben, müssen wir zugeben, dass viele Länder Inklusion besser umsetzen. Die Beneluxstaaten und Skandinavien sind beispielsweise schon deutlich weiter als wir, aber auch die USA, bei denen wir das vielleicht gar nicht erwarten würden.
Wir wissen, dass Menschen mit Behinderung die Liebe zum Sport mit den Menschen ohne Behinderung teilen. Dass wir trotzdem diese Differenz in den Zahlen sehen, ist eine sehr negative Offenbarung.
Was bremst inklusive Sportangebote noch?
Die größte Bremse sind aus meiner Sicht Hemmungen und Berührungsängste. Diese sehen wir auf beiden Seiten, bei Menschen mit und ohne Behinderung. Die Lösung ist hier, mutig das Miteinander zu wagen und Ängste offen anzusprechen. Außerdem ist die Mobilität ein großes Problem, die Frage, wie ich von A nach B komme. Hier braucht es Hilfsmittel und Transportdienste. Zudem braucht es barrierearme Sportanlagen, wir müssen beim Bau von Sportstätten von Anfang an inklusiv denken. Auch fehlt es an Vermittlung zwischen denen, die ein Angebot suchen, und den Vereinen, die eins anbieten können.
Etwas komplexer ist die Lage beim Leistungssport. Dessen selektive Funktion setzt der Inklusion Grenzen, aber das ist immer so im Leistungssport und stellt für mich nicht unbedingt ein Problem dar. Es gibt Bereiche, in denen diese selektive Herangehensweise Sinn ergibt.
Mir gefällt der Ansatz, häufiger zur gleichen Zeit am gleichen Ort den gleichen Leistungssport zu machen, wenn auch mit unterschiedlichen Wertungen, je nach vorhandener oder nicht vorhandener Behinderung.
Und was sind wesentliche Erfolgsfaktoren für das Gelingen von Inklusion im Sport?
Ein großer Erfolgsgarant ist immer das Kennenlernen: Wenn wir Ängste durch Begegnungen minimieren, Möglichkeiten erkennen und Spaß am gemeinsamen Sport haben. Ich würde mir wünschen, dass all die Menschen, die in unserer Politik eine wichtige Rolle spielen, selbst an inklusiven Sportangeboten teilnehmen. Dann würden die Belange von Menschen mit und ohne Behinderung automatisch viel eher mitgedacht. Aus gemeinsamem Sport entsteht Haltung, und Haltung zieht Veränderung nach sich.
Die Neue Norm - Inklusiver Sport
Aus gemeinsamem Sport entsteht Haltung, und Haltung zieht Veränderung nach sich.
Welche Rolle spielen große Sportereignisse wie die Paralympics für den inklusiven Sport? Fungieren sie als Treiber, oder sind sie eher ein Hindernis für die Weiterentwicklung inklusiver Sportangebote, weil nur Menschen mit Behinderung daran teilnehmen dürfen?
Schön, dass Sie in die Frage bereits aufgenommen haben, dass die Paralympics ein separierendes Ereignis sind. Das sind sie definitiv, auch wenn das manchmal unter den Teppich gekehrt wird. Sie bilden die Spitze des Leistungssports, genau wie die Olympischen Spiele, und sind somit für die meisten Menschen niemals eine realistische Option.
Trotzdem sehe ich die Paralympics als wichtiges Ereignis für den inklusiven Sport. Nicht, weil sie inklusiv sind, sondern weil sie Lust auf Begegnung machen. Sie tragen dazu bei, die mitleidige Haltung gegenüber Menschen mit Behinderung abzubauen und die Dynamik zu verändern: Man redet von Faszination, Respekt, Spannung, von allen Emotionen des Sports. Kinder und Jugendliche sehen die Paralympics im Fernsehen und fühlen sich inspiriert, wollen mit dem Sport beginnen oder fangen an, sich dem Thema zu öffnen.
Ich finde auch, wenn wir von den Paralympics sprechen, geht es zu oft um Fragen wie: „Dürfen da Menschen mit und ohne Behinderung denn nun gemeinsam Spitzensport machen? Darf ein Oscar Pistorius oder ein Markus Rehm bei den Olympischen Spielen starten?“. Plötzlich soll das Gelingen der Inklusion daran gemessen werden, ob ein Mensch mit Behinderung das Recht hat, bei den Olympischen Spielen anzutreten.
Ob Inklusion gelingt oder nicht, ist für mich nicht davon abhängig, ob Athlet*innen mit und ohne Behinderung im Rahmen der Olympischen Spiele bei gemeinsamen Wettkämpfen gegeneinander antreten, sondern davon, ob ein Kind mit Behinderung, das gerne Tischtennis spielen möchte, beim Tischtennisverein um die Ecke willkommen geheißen wird.
Ob Inklusion gelingt oder nicht, ist für mich abhängig davon, ob ein Kind mit Behinderung, das gerne Tischtennis spielen möchte, bei dem Tischtennisverein um die Ecke willkommen geheißen wird.
Welche konkreten Maßnahmen können den inklusiven Sport in Deutschland weiter voranbringen?
Da kommt die Politik ins Spiel, und Politik folgt bekanntlich gesellschaftlichen Strömungen. Wir brauchen also eine Lobby. Jeder Kreis-, Stadt- oder Landessportbund müsste sich klar für die Wichtigkeit der Belange von Menschen mit Behinderung aussprechen und entsprechend agieren. Auch Schulen profitieren sehr von dem partizipativen Aspekt des inklusiven Sports. Die Ausbildung der Übungsleiter*innen müsste angegangen werden, außerdem die Schaffung von Begegnungsräumen. Wir brauchen weitere Förderungen und Gesetze.
Wie schätzen Sie die Perspektiven für die weitere Entwicklung des inklusiven Sports ein?
Der große Hype ist vorbei. Aktuell ist der politische Rückenwind weg, den wir vor einigen Jahren in diesem Bereich hatten. Es stehen berechtigterweise andere wichtige Themen im Vordergrund wie Migration und Pandemie. Aber die Pandemie erschwert seit zwei Jahren gerade den Menschen mit Behinderung den Alltag. Diese Perspektive müssen wir im Blick behalten, egal, wie viele andere wichtige Themen es außerdem gibt.
Ich denke, einiges wird sich selbstständig weiterentwickeln. Ich blicke nicht mit düsterer Miene in die Zukunft, sondern bleibe offen, optimistisch und stolz auf das, was schon geschafft ist. Wichtig ist es jetzt, die Bemühungen zumindest aufrechtzuerhalten, sie am besten sogar zu verstärken.
Der große Hype ist vorbei. Wichtig ist es jetzt, die Bemühungen zumindest aufrechtzuerhalten, sie am besten sogar zu verstärken.
Wie wird Inklusion eigentlich an Ihrer Hochschule gelebt?
Hier an der Deutschen Sporthochschule Köln setzen meine Kollegin Dr. Anke Raabe-Oetker und ich uns als Rektorats- und Senatsbeauftragte für die Belange von Studierenden mit einer Behinderung oder einer chronischen Erkrankung ein. Wir begleiten Menschen mit besonderen Bedarfen vom praktischen Eignungstest, den alle Bachelor- und Lehramtsstudierende absolvieren müssen, über das gesamte Studium bis hin zur Abschlussarbeit. Dabei geht es insbesondere darum, wie theoretische und praktische Prüfungen über Nachteilsausgleiche angepasst werden können. Konkret wird zum Beispiel die Zeit zur Leistungsbeurteilung beim Schwimmen bei Studierenden mit Behinderung in Bezug zur Bestleistung der entsprechenden Wettkampfklasse im paralympischen Bereich gesetzt, während wir uns bei den Studierenden ohne Behinderung an den olympischen Bestleistungen orientieren.
Abgesehen davon bietet unser vielfältiger Hochschul-Campus allen Studierenden viel Raum, um sich zu begegnen, voneinander zu lernen und so eine Haltung zu entwickeln.