Das wir gewinnt

„Für eine inklusive sozialökologische Verkehrswende!“

Der öffentliche Personennahverkehr (ÖPNV) steht vor einer großen Herausforderung: der Umsetzung der Barrierefreiheit, die seit Beginn des Jahres gesetzlich vorgeschrieben ist. Für Cécile Lecomte ist klar: Nur durch Barrierefreiheit kann die ökologische Verkehrswende funktionieren.

Das Personenbeförderungsgesetz sah vollständige Barrierefreiheit für die Nutzung des öffentlichen Personennahverkehrs bis zum 1. Januar 2022 vor. Ausnahmen müssen begründet werden. Doch die Umsetzung lässt auf sich warten, Barrierefreiheit scheint nicht auf der Prioritätenliste der zuständigen Behörden und Verkehrsunternehmen zu stehen. Obwohl der barrierefreie Ausbau des ÖPNV für alle ein Gewinn wäre.

Landkreise und Kommunen beantworten Presseanfragen häufig nicht. Selbst Großstädte, wie Frankfurt am Main und Köln, geben keine Antwort. Und wenn doch: Das Ergebnis ist ernüchternd. Der Landkreis Darmstadt-Dieburg weist eine Quote von nur circa 35 Prozent barrierefreie Haltestellen aus. Dem Ausbau des zentralen Umsteigeplatzes Luisenplatz steht ein „historisches Bodenmosaik“ entgegen. In Lüneburg müssen für den zentralen Umsteigeplatz „Am Sande“ ebenfalls der Denkmalschutz und das Stadtbild als Begründung herhalten. Keine der angefragten Landkreise und Kommunen konnten bislang die im Gesetz geforderte vollständige Liste für begründete Ausnahmen zur Verfügung stellen.

Die Verkehrspolitik ist ableistisch, das heißt, Menschen mit Behinderung werden diskriminiert, die Gesellschaft behindert sie mit ihren Barrieren. Es ist angesichts der aktuellen Zustände verständlich, dass für viele Menschen mit Behinderung nicht der ÖPNV, sondern das private Auto für Mobilität steht. Nicht wenige Menschen legen sich eins zu, weil es für sie die einzige Möglichkeit ist, die Hindernisse in ihrem Alltag zu überwinden.

Es darf und kann keine Verkehrswende ohne Barrierefreiheit geben.

Cécile Lecomte, Aktivistin

 

Doch die Hindernisse sind kein Naturgesetz. Wenn Barrierefreiheit in Mobilitätskonzepten von vorneherein mitgedacht wird, lassen sich Lösungen und Wege finden. Davon bin ich überzeugt. Es darf und kann keine Verkehrswende ohne Barrierefreiheit geben.

Ich bin Rollstuhlfahrerin und habe kein Auto – und das ist gut so. Mich behindert aber die nicht passende Verkehrsinfrastruktur, wie die nicht barrierefreie Bushaltestelle um die Ecke, der Bus, der mich stehen lässt, weil es keinen Platz für mich darin gibt, oder die Anmeldefrist für den Mobilitätsservice der Bahn. Die ICE- und IC-Züge haben Stufen. Wenn ich mitfahren will, muss ich mich Tage zuvor anmelden, um Unterstützung mit einem Hublift beim Einsteigen zu erhalten. Spontanes Bahnfahren ist so unmöglich.

So wird es nichts mit der nachhaltigen Verkehrswende!

Es ist zu befürchten, dass die Barrieren uns noch Jahrzehnte begleiten. Denn die Deutsche Bahn kauft weiter Züge mit Stufen, obwohl stufenlose Hochgeschwindigkeitszüge existieren, wie die Talgo-Avril-Züge. Es fehlen außerdem Konzepte, die die unterschiedlichen Arten von Einschränkungen berücksichtigen. Insbesondere Mehrfachbehinderte gehen leer aus. Eine im Rollstuhl sitzende Person, die Bedarf nach Ruhe hat, kann beispielsweise nicht mitfahren, wenn der einzige Rollstuhlplatz sich im Familienbereich befindet.

Mehrere Wagen mit Rollstuhlplätzen wären der Anfang einer Lösung, damit Menschen mit Behinderung wählen können, wo sie sitzen, und eine Ausweichmöglichkeit haben, wenn eine Rollstuhlwageneinstiegstür mal wieder außer Betrieb ist. Neben barrierefreien Bussen, Straßenbahnen und Zügen braucht es erweiterte nachhaltige Mobilitätskonzepte. Als Ideen, die den Konzepten für eine autofreie oder zumindest -arme Innenstadt gerecht würden, fallen mir spontan Rollstuhlfahrradtaxen, Dreiradangebote, zum Beispiel über das bereits bestehende DB-Fahrradverleihsystem, oder Car-Sharing-Systeme mit Fahrzeugen, die Rollstühle befördern können, ein.

Cécile Lecomte trägt eine rote Weste und schaut in die Kamera.

Cécile Lecomte

Cécile Lecomte ist Kletteraktivistin und engagiert sich für eine Energie- und Verkehrswende. An rheumatoider Arthritis erkrankt und einen Rollstuhl nutzend, setzt sie sich für inklusiven Protest ein und gibt Kletterkurse für Menschen mit Behinderung. Über ihre Erfahrungen als kletternde Aktivistin veröffentlichte sie 2014 ihr Buch "Kommen Sie da runter! - Kurzgeschichten und Texte aus dem politischen Alltag einer Kletterkünstlerin".

Barrierefreiheit wäre für uns alle von Vorteil, auch für diejenigen, die nicht auf Barrierefreiheit angewiesen sind.

Cécile Lecomte, Aktivistin

Barrierefreiheit wäre für uns alle von Vorteil, auch für diejenigen, die nicht auf Barrierefreiheit angewiesen sind. Diese ermöglicht ein schnelleres Ein- und Aussteigen im Nah- und Fernverkehr (weniger Verspätung!), entspanntes Einsteigen mit Gepäck und Kinderwagen, keine Auseinandersatzung darüber, ob die Person mit Rollstuhl oder die Person mit Kinderwagen mangels Platz im Bus oder in der Bahn draußen bleibt und dadurch von der Beförderung ausgeschlossen wird.

Barrierefreiheit würde, neben weiteren Verbesserungen wie die Verdichtung des Taktes, die Verbesserung des Angebotes insbesondere auf dem Land und wie ein sozialverträgliches Angebot, den ÖPNV attraktiver machen, dieser wäre dann eine ernsthafte Alternative zum Auto. Autoarme Städte sind wiederum gut für das Klima und tragen zu einer nachhaltigen Verkehrswende bei. Darum haben wir alle etwas davon, wenn wir gemeinsam an einem Strang ziehen und Druck für mehr Barrierefreiheit ausüben.

Damit Kommunen und Landkreise die Barrierefreiheit umsetzen, ist es auch notwendig, die finanziellen und bürokratischen Hürden abzubauen. Der schnelle Ausbau scheitert oft an zu knappen Finanzen und an komplexen Zuständigkeiten. Es liegt an der Politik, die richtigen Prioritäten zu setzen.

Cécile Lecomte

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