Das wir gewinnt

Martinschule in Greifswald: Inklusion umgekehrt

Lehrerin und drei Kinder an einem Tisch in einem Klassenzimmer. Im Hintergrund sieht man eine Tafel.

An der Martinschule in Greifswald funktioniert Inklusion andersherum: Die Ex-Förderschule für Kinder und Jugendliche mit geistiger Behinderung steht auch Schülern ohne Behinderung offen. Ein erfolgreiches Modell, von dem alle profitieren. Die Schule wurde deshalb kürzlich mit dem Deutschen Schulpreis 2018 ausgezeichnet.

18 Zweitklässler sitzen im Morgenkreis auf dem Teppichboden und zählen auf Englisch, wie viele sie sind. Tim müsste „seven“ sagen. Aber er schweigt und schaut ins Leere. In der Klasse 2a der evangelischen Martinschule ist er eines von vier Kindern mit einer geistigen Behinderung. Die Martinschule in Greifswald ist etwas Besonderes. Der Anteil an Kindern mit Förderbedarf liegt bei 45 Prozent. Die Grund- und Gesamtschule war früher eine reine Förderschule für Kinder mit geistiger Behinderung. Dann hat man den Spieß umgedreht: Die Förderschule ist auch für Kinder ohne Förderbedarf offen. Nicht andersherum. Mittlerweile pilgern Schulleiter aus ganz Deutschland nach Greifswald. Sie schauen sich an, wie hier Inklusion funktioniert.

Radikal aufgelöst

Sechs junge Schüler stehen vor einer Klassenzimmertür.
550 Kinder besuchen die Schule. Sie werden von rund 100 Lehrerinnen und Lehrern unterrichtet. Schulleiter der Martinschule ist Benjamin Skladny, 56 Jahre alt und Förderschullehrer. Die Schule ist sein Lebenswerk. Sie war bis 2002 eine Sonderschule, anschließend kooperative Grund- und Gesamtschule. Bis 2011 gab es getrennte Regel- und Förderschulklassen an der Martinschule. Nur ab und zu unternahmen sie etwas zusammen. „Dann haben wir das radikal aufgelöst“, sagt Skladny. „Wir hatten in den ‚normalen‘ Klassen auch immer schon Kinder mit Förderbedarf. Die Kinder mit geistiger Behinderung da auch mit reinzuholen, war nur ein logischer Schritt.“ Skladny glaubt, dass das neue Konzept mehr Chancen für alle bedeutet.
Es gibt Momente, die dafürsprechen. Kleine Sternstunden. Tim, dem Jungen der im Morgenkreis nichts sagen will, flüstern die anderen Kinder das Wort zu. Weil er weiterhin schweigt, sagt seine Sitznachbarin „eight“. Macht einfach weiter, ohne Kommentar und ohne dass sich die Klassenlehrerin, Katja Danter, einmischen muss. Nach dem Morgenkreis beginnt Katja Danter mit ihrer Klasse ein Versteckspiel auf Englisch. „Wollen wir nach nebenan gehen?“, fragt Meik Grabow Sarah, die jünger wirkt als die anderen Zweitklässler. Grabow arbeitet als pädagogische Unterrichtshilfe. Im Nebenraum spielt er das Versteckspiel mit Sarah auf Deutsch. Immer wieder müssen die Lehrkräfte neu ausloten, wo die Kinder gemeinsam etwas machen können und wo es nötig ist, sie zu trennen.

„Keinen zurücklassen!“

„Keinen zurücklassen!“ lautet das Motto von Schulleiter Skladny. Hört sich gut an, bedeutet aber auch, dass an dieser Schule jedes Kind mit geistiger Behinderung angenommen wird. Darunter auch solche mit schwersten und mehrfachen Behinderungen. Das ist umstritten, auch unter seinen Mitarbeitern. Ein schwerst-mehrfach-behindertes Kind, das immer wieder laut schreit, sich auf den Boden wirft oder intensiver Pflege bedarf, kann eine große Herausforderung für Lehrer sein, die versuchen, gleichzeitig Unterricht zu machen.

Die Schule verfolgt zwei Ziele. Sie will eine moderne reformpädagogische Regelschule sein. Und eine gute Schule für Kinder und Jugendliche mit geistiger Behinderung. Die Räume in der Martinschule sind großzügig. Jede Klasse hat ihren Garderoben- und Sanitärbereich. Es gibt eine Küchenzeile und eine Leseecke mit Sofa. Zu jeder Klasse gehören drei bis vier Erwachsene: neben der Lehrerin oder dem Lehrer auch pädagogische Unterrichtshelfer*innen, Integrationshelfer*innen und eine Sonderpädagogin oder ein Sonderpädagoge.

Gute Förderung durch viel Personal

Mädchen schmust in Klassenraum mit riesigem Stoff-Bär.

Das Konzept funktioniert nur mit viel Personal. Viele Eltern schätzen die Martinschule vor allem darum. Eine Mutter erzählt, sie habe ihr Kind hier angemeldet, weil dies eine gut ausgestattete reformpädagogische Schule sei. Wie viele Eltern wünscht sie sich in erster Linie, dass ihr Kind gut gefördert wird, möglichst bis zum Abitur.

Man kann an so einem Vormittag in der Schule viele Beispiele dafür finden, dass die Inklusion funktioniert: Evelina schafft die Mathe-Knobelaufgabe nicht, in der die Kinder einen Fahrpreis für eine Schiffsfahrt errechnen sollen. Aber sie malt Zahlen auf das Papier und schreibt „Schiff“. Bei der Vorstellung der Aufgaben kommt sie ebenso dran wie Sarah. Die hat ein blaues Boot in ihr Buch gemalt und zeigt es ihren Mitschülern.

Aber es gibt auch Gegen-Beispiele. Im Sportunterricht mit einer Parallelklasse steht ein Rollstuhlfahrer eine halbe Stunde lang neben seinen Klassenkameraden, die Handball spielen. Und schaut zu. „Klar, gibt es bei uns auch Probleme“, sagt Katja Danter. „Aber man kann ja nur besser werden, indem man mal anfängt.“

„Es geht darum, was wir brauchen“

Die Inklusionsklassen sind vor drei Jahren in Klasse 5 gestartet. Noch weiß keiner so genau, wie gut das Modell in den höheren Klassen funktioniert. Die Diskussion im Kollegium war im Vorfeld groß. Nicht alle aus dem Kreis wollten Inklusion auch in der Sekundarstufe. Für Benjamin Skladny kommt nichts anderes infrage. „Es geht nicht darum, ob wir es schaffen oder nicht“, sagt er. „Es geht nur darum, was wir brauchen, um es zu schaffen.“ Alles andere wäre für ihn ein Schritt zurück. Seine Schule hat sich zu einem wegweisenden Beispiel entwickelt. Ein Experimentierfeld dafür, wie viel Gemeinschaft möglich ist, wie und ob eine Schule für alle funktionieren kann.