Flucht mit Behinderung: „Die Menschen sind häufig unterversorgt“
Dr. Susanne Schwalgin ist Projektleiterin von „Crossroads“, einem Projekt von Handicap International e.V. Das Projekt hat zum Ziel, die Teilhabe geflüchteter Menschen mit Behinderung in Deutschland zu verbessern. Im Interview erläutert sie die besonderen Schwierigkeiten, die Rechte Geflüchteter durchzusetzen.
Wie viele geflüchtete Menschen mit Behinderung leben in Deutschland und wie ist ihre rechtliche Situation?
Es gibt keine exakten Zahlen, aber Schätzungen zufolge haben zehn bis 15 Prozent der Geflüchteten eine Behinderung. Nach Angaben des Bundesinnenministeriums lebten bis Ende 2021 1,94 Millionen Schutzsuchende in Deutschland. Zwischen Ende Februar und dem 10. Oktober 2022 wurden zudem rund eine Million Geflüchtete aus der Ukraine im Ausländerzentralregister registriert. Recht haben und Recht bekommen sind zwei verschiedene Dinge: Das beschreibt auch die Situation von geflüchteten Menschen mit Behinderung gut. Es gibt zwar Rechtsnormen wie die UN-Behindertenrechtskonvention, die EU-Aufnahmerichtlinie, das Grundgesetz usw. Auf dieser Grundlage haben auch Geflüchtete mit Behinderung, die noch im Asylverfahren sind oder eine Duldung haben, das Recht auf Leistungen, zum Beispiel aus der Eingliederungshilfe oder Leistungen, wie sie das Bundesteilhabegesetz garantiert. Trotzdem gestaltet sich die Situation für diese Menschen schwierig. Sie erhalten oft nur einen minimalen Zugang zu Leistungen. Mit einem Aufenthaltstitel haben sie dann theoretisch die gleichen Rechte wie alle anderen. Doch in der Praxis bleibt es mühsam.
Können Sie diese Schwierigkeiten, mit denen geflüchtete Menschen zu kämpfen haben, näher erläutern?
Das System der Behindertenhilfe in Deutschland ist extrem kompliziert und komplex. Diese Menschen haben ja zusätzlich auch noch viele andere Herausforderungen zu bewältigen, zum Beispiel viel Bürokratie, die Überwindung der Sprachbarrieren und die Bewältigung traumatischer Erfahrungen. Deswegen ist es für sie ungleich schwerer, behinderungsspezifische Unterstützung zu bekommen. Ohne professionelle oder ehrenamtliche Beratung ist es fast aussichtslos. Doch auch die Beratungsstellen sind häufig nicht in der Lage, diese Personengruppe adäquat zu beraten aufgrund von mangelnden Sprach- und Fachkenntnissen an der Schnittstelle Flucht und Migration. Die Schnittstellen zwischen der Flüchtlingshilfe und der Behindertenhilfe sind nicht systematisch ausgebildet. Für eine adäquate Unterstützung geflüchteter Menschen mit Behinderung braucht man aber Expertise aus beiden Bereichen.
Was bedeutet das für den Alltag?
Die Personen sind sehr häufig unterversorgt mit Hilfsmitteln und Unterstützungsleistungen. Da bei der Erstaufnahme das Merkmal Behinderung nicht systematisch identifiziert wird, kommen längst nicht alle in barrierefreie Unterkünfte. Auch bei der späteren Verteilung auf die Kommunen wird das Merkmal Behinderung häufig nicht beachtet. Flüchtlinge mit Behinderung werden dann Kommunen zugewiesen, in denen es die für sie nötigen Unterstützungsstrukturen nicht gibt.
Je nach Beeinträchtigung hat eine Behinderung auch Einfluss auf das ganze Asylverfahren. Wenn zum Beispiel nicht erkannt wird, dass jemand eine kognitive Behinderung hat und deshalb seine Asylgründe nicht adäquat darlegen kann, führt das unter Umständen zur Ablehnung.
Im Prinzip ist das ganze System der Flüchtlings- und Behindertenhilfe nicht auf diese Personengruppe eingestellt. Sie werden nicht systematisch mitgedacht. Es gibt zum Beispiel kaum barrierefreie Sprachkurse. Das behindert zusätzlich den Zugang zum Arbeitsmarkt.
Wie reagieren Sie mit dem Projekt Crossroads auf diese Schwierigkeiten?
Einerseits betreiben wir Interessensvertretung für diese Personengruppe gegenüber Politik und Verwaltung. Andererseits geht es um Kapazitätsaufbau. Mit Fortbildungen und Beratung von Fachkräften und Organisationen der Flüchtlings- und Behindertenhilfe unterstützen wir den Aufbau von Strukturen, die Geflüchtete mit Behinderung unterstützen. Es geht darum, dass sich die Akteure aus der Behindertenhilfe und der Flüchtlingshilfe zu dieser Thematik vernetzen.
Und drittens betreiben wir Empowerment. Unsere Zielgruppe ist im Prinzip unsichtbar und nicht organisiert. Geflüchtete mit Behinderung sind bisher auch nicht in Selbstvertretungsorganisationen von Menschen mit Behinderung in Deutschland präsent. Das wollen wir verbessern.
Aus dem Projekt Crossroads ist nun ein neues Informations-Angebot für Berater*innen entstanden, die „Roadbox“. Was enthält dieses Themenportal?
Das Online-Angebot richtet sich an Fachkräfte aus der Behinderten- und Flüchtlingshilfe. Das Themenportal mit vielen Arbeitshilfen beantwortet Fragen von Fachkräften, die vielleicht noch nie zuvor etwas mit dieser Problemstellung zu tun hatten. Zum Beispiel jemand, der in einer Flüchtlingsunterkunft arbeitet, der zum ersten Mal eine Person mit Behinderung beraten muss, oder eine Mitarbeiterin einer Beratungsstelle für Menschen mit Behinderung, zu der erstmals eine Geflüchtete kommt.
Es geht um Grundlagenwissen zur Lebenssituation geflüchteter Menschen mit Behinderung und auch um Teilhabe und den Zugang zum System der Behindertenhilfe. Wir haben gemeinsam mit Fachautor*innen auch bereits bestehende Arbeitshilfen digital zugänglich gemacht bzw. entwickelt. Außerdem gibt es noch Checklisten zu Selbsthilfe und Selbstvertretung.
Wir würden auch gerne noch eine Roadbox für geflüchtete Menschen selbst machen, die zielgruppenadäquat und mehrsprachig ist und viele Erklärvideos enthält. Dafür suchen wir aktuell noch eine Finanzierung.
Projekt Crossroads: Die Rechte Geflüchteter stärken
In der neuen Roadbox finden Fachkräfte gebündelte Informationen und viele Arbeitshilfen, um die Bereiche der Behinderten- und Flüchtlingshilfe stärker miteinander verknüpfen zu können.