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Crip Camp – Sommer der Krüppelbewegung

Als Behinderung politisch wurde: Im „Camp Jened“, im US-Staat New York, trafen sich behinderte Jugendliche in den 1960er und 70er Jahren in einem Ferienlager, dem „Crip Camp“ – „Krüppel Camp“, wie sie es selbst nannten. Die Ferienfreizeit mit Rockmusik, erster Liebe und Lagerfeuer wurde zu einer Keimzelle der Behindertenbewegung. Ein Film zeichnet die Entwicklung nach.
Das historische schwarz-weiße Bild zeigt mehrere Männer und Jugendliche mit und ohne Behinderung draußen. Ein lachender schwarzer Mann trägt einen weißen.
Im „Camp Jened“ trafen sich behinderte Jugendliche in einer Ferienfreizeit, dem „Crip Camp“ – „Krüppel Camp“, wie sie es selbst nannten. Doch es ging nicht nur um Spaß, sondern auch um Emanzipation.
„Ich wollte Teil der Welt sein, aber ich sah in ihr keinen Platz für jemanden wie mich. In Jened war ich auf einmal eines der ‚coolen Kids‘. Mir wurde klar, dass nicht meine Behinderung das Problem ist, sondern die Gesellschaft und ihre Barrieren.“ So beschreibt James LeBrecht seinen Aufenthalt in Camp Jened, einem Ferienlager für Jugendliche mit Behinderung, im Sommer 1971. Fast 50 Jahre später hat er einen Dokumentarfilm über diese besonderen Ferien und ihre Folgen gedreht. Denn Camp Jened – von den Jugendlichen auch „Crip Camp“, zu Deutsch: Krüppelcamp genannt  war eine Keimzelle der US-amerikanische Behindertenbewegung. 

Die Ursprünge des „Crip Camp

Bereits in den 1950er Jahren gab es das erste „Camp Jened“ für behinderte Kinder und Jugendliche, damals vor allem für solche mit Polio. In den 1960er und frühen 1970er Jahren gingen die großen Themen der Zeit wie Feminismus, Antirassismus, die Friedens- und Hippiebewegung auch am Camp Jened nicht spurlos vorbei. LeBrecht, zu jener Zeit der einzige Schüler mit Behinderung auf seiner Schule, traf erstmals auf andere „integrierte“ behinderte Jugendliche, aber auch auf behinderte Heimkinder, damals noch sehr zahlreich in den USA.

Austausch und Unterstützung für junge Menschen mit Behinderung

Gewalt auf der einen Seite, elterliche Überbehütung auf der anderen, Verleugnung von Sexualität und Fremdbestimmung: All das waren Themen, über die sich die Jugendlichen erstmals austauschen konnten. Im Camp Jened unterstützten sie sich gegenseitig: Assistenz wurde nicht nur von den Betreuer*innen geleistet, sondern auch von den Teilnehmer*innen untereinander. Das Team der Betreuer*innen bestand aus nicht behinderten und behinderten Menschen.

Vom „Crip Camp“ zum politischen Aktivismus

Judy Heuman, erst Teilnehmerin, dann Betreuerin im Crip Camp, nahm das Aufbegehren mit nach Hause und gründete die Behindertenrechtsorganisation „Disabled in Action“. In Manhattan organisierte sie damals Straßenblockaden, die Freund*innen aus dem Camp Jened waren vorne mit dabei. Im Laufe der Siebziger Jahre zogen sie gemeinsam nach Berkeley, damals schon ein kleines „Mekka“ der Behindertenbewegung. Die persönliche Assistenz wurde dort erfunden, Zentren für Selbstbestimmtes Leben gegründet. Die Ehemaligen aus „Jened“ waren mittendrin, organisierten Demos, feierten ausgelassene Partys.

Das Crip Cramp und die Behindertenbewegung in Deutschland

In den 1980er und 90er Jahren organisierte das „Amt für Jugendarbeit“ der Evangelischen Landeskirche Baden Ferienfreizeiten für behinderte Jugendliche, die dem „Crip Camp“ stark ähnelten. Für die westdeutsche Behindertenbewegung gaben aber vor allem Demonstrationen den Startschuss: 1980 gegen das „Frankfurter Urteil“, bei dem einer Klägerin Recht gegeben wurde, die die Anwesenheit behinderter Menschen in ihrem Urlaubshotel als Wertminderung beklagte, und 1981 gegen das „UNO-Jahr der Behinderten“. Doch westdeutsche Aktivist*innen und „Krüppelgruppen“ nahmen sich die USA zum Vorbild, brachten Bürgerrechtsideen nach Deutschland, übernahmen das Modell der Persönlichen Assistenz und der Selbstbestimmt-Leben-Zentren.

„504 Sit-in“ – langer Protest für ein Anti-Diskriminierungs-Gesetz

Die Kamera ist immer dabei – auch 1977 beim legendären „504 Sit-in“. 150 Aktivist*innen besetzten damals ein Regierungsgebäude in San Francisco. Ihr Ziel war es, die schon 1973 beschlossene Umsetzung von Artikel 504 des „Rehabilitation Acts“, eines Anti-Diskriminierungs-Gesetzes, durchzusetzen. Erst nach 25 Tagen gab es eine Zusage, das Gesetz endlich umzusetzen. Gute Kontakte zur lokalen Bürgerrechtsszene halfen den Besetzer*innen, diese lange Zeit durchzustehen: Die Black Panthers brachten jeden Tag kostenlos Essen, eine feministische Gruppe organisierte Duschen und Haarshampoo. Der Film „Crip Camp“ zeigt, wie eine „Graswurzelbewegung“ sich intersektional organisierte, also viele Identitäten mitdachte, und dadurch erfolgreich wurde.

Behindertenbewegungen sollen breite Öffentlichkeit bekommen

Geschichten wie diese sollten endlich an die breitere Öffentlichkeit, fanden Jim LeBrecht und seine Co-Regisseurin Nicole Newnham. Kommentare einiger Zeitzeug*innen komplettieren das reichhaltige Original-Filmmaterial. So entstand eine Liebeserklärung an das Jung-Sein und eine mitreißend-witzige Erzählung über eine revolutionäre Zeit und die Sehnsucht nach Befreiung. Michelle und Barack Obama und ihre Produktionsfirma „Higher Ground“ finanzierten den Film. Belohnt wurde der Einsatz mit dem Publikumspreis des Sundance Filmfestivals 2020.

 

Text: Rebecca Maskos

Fotos: Steve Honisgbaum, HolLynn D'Lil, Sacha Maric

Das Filmplakat des Films Crip Camp zeigt einen Jugendlichen mit Gitarre, der einen anderen im Rollstuhl schiebt

Der Film Crip Camp

Der Film „Crip Camp - Sommer der Krüppelbewegung“ ist bei Netflix und in voller Länge auch auf YouTube zu sehen.

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