Verbandsklagen: Gemeinsam gegen Goliath
In der Theorie klingt es gut: Gleichstellungsgesetze auf Bundes- und Landesebene verpflichten öffentliche Einrichtungen zur Barrierefreiheit. Und mit dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz werden Menschen mit Behinderung vor Diskriminierung geschützt. In der Praxis hat sich in den letzten Jahren zwar tatsächlich manches in Bezug auf Barrierefreiheit verbessert. Doch von einer umfassenden Zugänglichkeit von Gebäuden, Angeboten und Informationen öffentlicher Stellen kann trotzdem noch längst nicht die Rede sein.
Warum rechtliches Vorgehen oft so schwer fällt
Als betroffene Einzelperson mag man sich häufig ärgern, wenn man an Barrieren stößt – ob an der Rathaustreppe, wegen einer schwer verständlichen Website oder eines fehlenden Blindenleitsystems. Aber nur wenige kommen auf den Gedanken, Bundes-, Landes- oder kommunale Behörden oder Unternehmen deswegen zu verklagen. Nicht nur, weil es sich wie ein Kampf von David gegen Goliath anfühlen würde. Auch fehlt es Einzelnen meist an Sachverstand, Ressourcen, Zeit und Kraft.
Der Gesetzgeber hat aber eine – bisher noch wenig genutzte – Möglichkeit vorgesehen, dennoch rechtlich etwas zu bewegen.
Verbandsklage: Rechte des Einzelnen vertreten
„Mit dem Instrument der Verbandsklage haben Verbände, die sich mit einem speziellen Thema befassen, stellvertretend die Möglichkeit, die Einhaltung von Recht und Regeln einzufordern“, sagt Dr. Michael Richter von Rechte behinderter Menschen (rbm). Ein Verband kann sich also für eine Sache einsetzen, ohne wie eine Einzelperson in den eigenen Rechten verletzt worden zu sein. Ist eine Verbandsklage vor Gericht erfolgreich, schafft sie nicht nur in einem ganz bestimmten Fall mehr Barrierefreiheit. Auf das Urteil können sich anschließend auch andere Kläger beziehen.Was Verbandsklagen bewirken können
Sind mehrere Verbandsklagen erfolgreich, kann sich eine neue „Rechtsprechungskultur“ entwickeln, so Michael Richter. Das wiederum könne dazu beitragen, die Rechte von Menschen mit Behinderung tatsächlich in Anwendung zu bringen und den momentanen „Umsetzungsstau“ zu bekämpfen.Mit dem Instrument der Verbandsklage haben Verbände, die sich mit einem speziellen Thema befassen, stellvertretend die Möglichkeit, die Einhaltung von Recht und Regeln einzufordern.
Das Thema bekannter machen
In den Bereichen Verbraucherschutzrecht und aus dem Umweltrecht werden Verbandsklagen schon länger erfolgreich angewandt. Nun soll das Instrument auch im Bereich Gleichstellung und Barrierefreiheit genutzt werden. Mit Förderung der Aktion Mensch hat der Deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband (DBSV) mit seiner Rechtsberatungsgesellschaft rbm ein Projekt gestartet, um Verbandsklagen bekannter zu machen und zum Einsatz zu bringen. Dabei setzt sich der Verband nicht nur für blinde und sehbehinderte, sondern ausdrücklich für alle Menschen mit Behinderung ein.Verbandsklagen in der Behindertenselbsthilfe
Obwohl es das Instrument der Verbandsklage schon länger gibt, wurde es in der Vergangenheit relativ selten für Menschen mit Behinderung genutzt. Das liegt nach Einschätzung von Michael Richter auch an der zersplitterten und komplizierten Struktur der Behindertenselbsthilfe.
Jeder Verband konzentriert sich zunächst auf eine bestimmte Behinderung oder Krankheit. Die juristischen Ressourcen sind deshalb für den einzelnen Verband überschaubar und die Möglichkeiten, sich in die Materie der Verbandsklage einzuarbeiten, begrenzt. Mit dem DBSV-Projekt „Verbandsklagen als strategisches Instrument der Selbsthilfe“ soll sich das nun ändern.
Unterstützung vor Gericht
Beim Projekt geht es einerseits darum, über die Möglichkeiten von Verbandsklagen aufzuklären und bundesweit Verbände der Behindertenselbsthilfe zum Thema zu coachen. Andererseits unterstützt die Rechtsberatung rbm die Verbände auch konkret, wenn es mit einem Fall vor Gericht geht.
Vier Workshops zum Thema haben bereits stattgefunden, ein Netzwerk interessierter Verbände wurde geknüpft und umfangreiche Informationen zum Thema aufbereitet. Ein Beirat, in dem auch Wissenschaftler*innen vertreten sind, soll in Kürze seine Arbeit aufnehmen und das Vorhaben beraten und fachlich begleiten.
Checkliste Verbandsklagen
Wann ist eine Klage zur Durchsetzung von Barrierefreiheit zulässig? Welche Voraussetzungen müssen dafür erfüllt sein? Und welche Instrumente stehen zur Verfügung? Erste Einschätzungen liefert die neue Checkliste für Verbandsklagen, die der Deutsche Blinden- und Sehbehindertenverein, gefördert von der Aktion Mensch, veröffentlicht hat. Die wichtigsten Punkte aus der Checkliste haben wir für Sie zusammen gestellt.
Ein Fall muss Fall ausreichend signifikant, eindeutig und öffentlichkeitswirksam sein.
Geeignete Fälle für die Verbandsklage
In der aktuellen Projektphase geht es darum, geeignete Fälle zu finden und strategisch für Verbandsklagen auszuwählen. „Dazu muss ein Fall ausreichend signifikant, eindeutig und öffentlichkeitswirksam sein“, so Michael Richter. Doch auch ein vielversprechender Fall ist keine Garantie für eine erfolgreiche Verbandsklage. Denn bevor ein Fall vor Gericht verhandelt wird, muss er zwingend in ein Schlichtungsverfahren.
Teilerfolge durch Schlichtungen
Bisher erreichte das Verbandsklageprojekt auch lediglich Teilerfolge durch Schlichtung. Zum Beispiel: Bei der Förderung von Elektrofahrzeugen wird künftig auch das akustische Warnsystem AVAS gefördert, um blinde und sehbehinderte Verkehrsteilnehmer*innen vor den leisen Fahrzeugen zu schützen. Ursprünglich war keine Förderung dafür vorgesehen.
Die bisher nicht barrierefreien Unterlagen zum Mikrozensus des Statistischen Bundesamts werden in Zukunft für alle zugänglich sein. Und auch ein öffentlicher Platz in Bremen wird dank eines Schlichtungsverfahrens nun barrierefrei umgebaut.
Rechte von Menschen mit Behinderung verbindlich einfordern
„Zu solchen Angeboten kann man schlecht Nein sagen“, meint Michael Richter, der die Erfolge von Schlichtungsverfahren nicht mindern will. Allerdings kommt es dadurch nicht zu Urteilen und Präzedenzfällen. Deshalb bleibt das Team der rbm weiter dran, passende Fälle für erfolgreiche Verbandsklagen zu identifizieren. Immer mit dem Ziel: die Umsetzung der Rechte von Menschen mit Behinderung verbindlich einzufordern.