Eine gemeinsame Sprache finden
Wie können Jugend- und Behindertenarbeit jungen Leuten helfen, ihren Weg zu finden? Und was können Pädagogen tun, damit Menschen mit und ohne Behinderung selbstverständlich miteinander umgehen? Ein Gespräch mit Dr. Christian Lüders, Leiter der Abteilung Jugend und Jugendhilfe des Deutschen Jugendinstituts, und Mike Corsa, Generalsekretär der Arbeitsgemeinschaft der Evangelischen Jugend.
Herr Dr. Lüders, Sie haben am 15. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung mitgearbeitet. Vor welchen Herausforderungen stehen Jugendliche heute?
Lüders: Wir haben drei zentrale Begriffe herausgearbeitet, die die Lebensphase Jugendlicher zwischen zwölf und 27 von der Kindheit oder dem Erwachsenenalter unterscheidet: Qualifizierung, Verselbstständigung und Selbstpositionierung. Dass das Jugendalter etwas mit Qualifizierung zu tun hat, ist klar. Junge Menschen müssen zur Schule gehen, erwerben in der Regel einen Abschluss, machen eine Berufsausbildung oder studieren. Verselbstständigung und Selbstpositionierung fallen dagegen in der öffentlichen Wahrnehmung oft hinten runter. Dabei wird von jungen Leuten erwartet, dass sie bis zum Eintritt ins Erwachsenenleben eigenständig sind, dass sie Verantwortung für sich und für die Gemeinschaft übernehmen können. Ebenso erwartet wird die Selbstpositionierung. Junge Menschen sollen eigene Haltungen entwickeln. Sie sollen sich politisch positionieren, sich in religiösen, weltanschaulichen Dingen und in den Geschlechterverhältnissen sortieren und verorten. Und Selbstpositionierung heißt auch, ein Verhältnis zur sozialen Vielfalt zu bekommen und zu lernen, damit umzugehen.
Corsa: Und all dies unter den Bedingungen einer hochgradig pluralisierten Gesellschaft. Jugendliche stehen vor einem riesigen Angebot teils widersprüchlicher Weltdeutungen. Und die Gesellschaft erwartet von ihnen, dass sie am Schluss mit einer relativ gefestigten Identität auftreten, mit einer eigenen Position ihre Rolle als engagierte und politisch verantwortungsvoll handelnde Bürger übernehmen.
Wie organisiert die Gesellschaft das Aufwachsen Jugendlicher, damit sie diese Herausforderungen bewältigen können?
Lüders: Das ist die zentrale Frage. Die Qualifizierung ist gesellschaftlich einigermaßen gut organisiert. Wir haben das Schulsystem und das Ausbildungssystem mit den jeweiligen Abschlüssen. Zwar fallen noch zu viele junge Menschen durch das Raster der Regeleinrichtungen, aber für die haben wir immerhin das Übergangssystem und Förderangebote erfunden. Nachdenklich muss man dagegen werden, wenn man sich die fehlende gesellschaftliche Unterstützung der beiden anderen Punkte – Verselbstständigung und Selbstpositionierung – anschaut. Dabei sind die genauso wichtig wie Qualifizierung. Aber wie funktioniert Verselbstständigung, wenn junge Menschen beispielsweise keinen bezahlbaren Wohnraum in größeren Städten mehr finden? Welche Spielräume bleiben für Eigenverantwortung und Selbstorganisation unter den Bedingungen eines hochgradig reglementierten Bachelorstudiums? Wo sind die Orte und Angebote, die Jugendliche dabei unterstützten, sich ins Verhältnis zu setzen zur Bürgerrolle, zur Geschlechterrolle, zu Religion und den vielen anderen Dingen, die Identität ausmachen? Dabei denkt man schnell an die Angebote der Kinder- und Jugendhilfe. Aber man muss sich auch eingestehen: Im Vergleich zur Qualifizierung werden die anderen Aufgaben des Jugendalters von der Gesellschaft weitgehend vernachlässigt.
Eine zunehmend multikulturelle Gesellschaft, Digitalisierung, ein sehr viel schnelleres Leben machen es Jugendlichen nicht leichter, sich zu orientieren. Wie kann die Kinder- und Jugendarbeit darauf reagieren?
Corsa: Kinder- und Jugendarbeit macht ja ganz heterogene Angebote. Die der Falken, des Jugendrotkreuz, der Jugendfeuerwehr oder der Evangelischen Jugend zum Beispiel sind sehr unterschiedlich. Wir haben es mit sehr unterschiedlichen Lebenslagen junger Menschen aus unterschiedlichen Milieus zu tun. Deshalb versuchen wir, ein möglichst breites Spektrum an Kinder- und Jugendarbeit zu etablieren. Dazu kommen noch offene, mobile und kulturelle Angebote. Sie alle sind wichtig für ein breites, pluralistisches Angebot.
Lüders: Eigentlich ist es noch nicht breit genug, denn es gibt viele Jugendliche, die wir bisher nicht ansprechen. Wir haben zum Beispiel zu wenig attraktive Angebote für muslimische Jugendliche.
Passen die Rahmenbedingungen der Jugendarbeit zu den heutigen Lebensgewohnheiten der Zielgruppe?
Corsa: Früher war klar: Der Verband ist organisiert durch seine zahlenden Mitglieder, die einmal in der Woche zur Gruppenstunde gehen. Heute haben die Verbände an vielen Stellen fließende Übergänge und offene Angebote. Kinder- und Jugendarbeit ist ständig in Bewegung und steht vor neuen Herausforderungen. Stichworte sind in diesem Zusammenhang interkulturelle Öffnung, inklusive Öffnung, interreligiöse Dialoge. Ein anderer wichtiger Punkt: Die verbandliche Kinder- und Jugendarbeit lebt vor allem durch ehrenamtliches Engagement. Aber es wird schwerer, Leute zu finden, die sich regelmäßig engagieren. Die alten Milieus, aus denen Engagierte stammen, erodieren. Darauf muss die Kinder- und Jugendarbeit Antworten finden.
Können Sie Beispiele für den aktuellen Wandel in der Jugendarbeit nennen?
Corsa: Die Ganztagsschule schränkt die Möglichkeiten ein, sich am Nachmittag noch einbringen zu können. Den Wechsel von G9 zu G8 haben wir in der Kinder- und Jugendarbeit stark bemerkt. Da wurden die Belastungen für die Jugendlichen deutlich höher. Die Gesellschaft betont die Jugend heute sehr einseitig als eine Qualifizierungsphase. Der Druck, gute Noten zu haben, ist deutlich stärker als früher. Die Kinder- und Jugendarbeit setzt deshalb heute früher an, oft schon im Grundschulalter, um Kinder zu erreichen.
Lüders: Ich glaube, das hat etwas mit der veränderten Bedeutung von Gleichaltrigen, den Peergroups, zu tun. Wir beobachten eine Vorverlagerung jugendtypischen Verhaltens bei jungen Menschen. Die Bedeutung der Freunde, der Peers, nimmt schon in frühen Jahren zu. Insofern reagieren die Verbände richtig, wenn sie früher anfangen. Sonst organisieren sich die Leute ihre Peers woanders. Die Bedeutung der Peers nimmt ab circa 16, 17 Jahren wieder deutlich ab. In diesem Alter geschehen neue Schübe an Individualisierung.
Der Umgang mit Vielfalt wird zu einer Kernkompetenz in unserer Gesellschaft. Das Zusammenbringen unterschiedlicher Peers in der Kinder- und Jugendarbeit bietet gute Chancen, Vielfalt erlebbar zu machen, oder?
Lüders: Es gibt ja viele Begriffe: Peers, Clique – Im Bayrischen sagt man: „I bin mit meiner Blosn unterwegs.“ Man kommt zusammen, weil man etwas gemeinsam hat. Der Musikstil, die Art sich zu kleiden, die gleichen Erfahrungen, das gleiche Milieu. Wenn ich in der Jugendarbeit heterogene Erfahrungen ermöglichen möchte, dann muss ich ein Angebot machen, das für möglichst viele attraktiv ist. Zum Beispiel: Fußball. Da ist es egal, ob man Kurde, Sachse oder Bayer ist. Man muss gut kicken können. Das stiftet Identität auf andere Weise. Da besteht die Chance, dass Erfahrungen von Anderssein und Vielfalt ermöglicht werden können. Wenn wir über Inklusion und junge Menschen mit Behinderung reden, gibt es eine weitere Herausforderung: Wie können Angebote so gestaltet werden, dass junge Menschen mit und ohne Behinderung einen Kristallisationspunkt für Gemeinsamkeit haben? Und somit eine Peerbeziehung aufbauen können? Wenn wir es ernst meinen, müssen wir dafür attraktive Orte schaffen, an denen Begegnungen überhaupt erst möglich werden.
Corsa: In der Behindertenhilfe gibt es oft bessere Ressourcen und Möglichkeiten dafür. Aber im Sozialraum kommen Menschen mit Behinderung selten vor. Deshalb müssen wir die Strukturen aufeinander zubewegen. Zum Beispiel, indem man bewusst Projekte schafft, die Vielfaltserfahrungen ermöglichen. Wir planen in der evangelischen Kinder- und Jugendarbeit gerade ein Projekt an zehn Standorten, um Kinder- und Jugendarbeit mit Behindertenarbeit zusammenzubringen.
Welche Rolle spielt inklusive Bildung in Form von Begegnungen und gemeinsamen Aktivitäten für die Entwicklung von Jugendlichen?
Corsa: Die Schule ist dabei das A und O. Solange wir Kinder mit kognitiven Einschränkungen überwiegend in Förderschulen unterrichten, fehlen wichtige Begegnungsmöglichkeiten. Wenn inklusive Schulen selbstverständlich wären, käme auch die Kinder- und Jugendarbeit unter Druck, mehr inklusive Angebote zu machen.
Wo stehen wir aktuell beim Thema Inklusion in der Kinder- und Jugendarbeit?
Corsa: Im Moment hängt das noch stark davon ab, ob man Leute im Verband hat, die sich dafür einsetzen. Ich plädiere deshalb für einheitliche gesetzliche Regelungen für alle Kinder und Jugendlichen in Deutschland – ob behindert oder nicht.
Lüders: Wir sollten uns aber nicht zurücklehnen und abwarten, was der Gesetzgeber macht. Die Herausforderungen liegen ja auch auf der praktischen Ebene. Wir müssen unsere Organisationsstrukturen anders aufstellen. Wir müssen unser Personal fachlich qualifizieren, sodass es inklusive Angebote machen kann. Und das in den jeweiligen Feldern auf unterschiedliche Weise. Der Chorleiter muss seinen Chor anders organisieren. Das Jugendheim muss für Blinde zugänglich sein. Informationen müssen leichter zugänglich und verständlich werden.
Welche Erfahrungen haben Sie damit in Ihrem Verband gemacht, Herr Corsa?
Corsa: Wir machen sehr positive Erfahrung mit inklusiven Projekten. Aber wir müssen genau hinsehen, mit welchen jungen Menschen mit und ohne Behinderung wir es jeweils zu tun haben. Mit gefestigten Jugendlichen mit Bildungserfahrung sind solche gemeinsamen Projekte einfacher. Wenn ich es mit Jugendlichen zu tun habe, die sich permanent abgrenzen müssen aufgrund ihrer sozialen Lage oder ihrer zugesprochenen Defizite, wird es schwieriger. Umso wichtiger ist es, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu haben, die das trotzdem versuchen. Die muss ich als Multiplikatoren gewinnen. Deshalb haben wir in unserem Verband eine Stelle geschaffen für eine Person, die sich um Vielfalt kümmert.
Welche Rahmenbedingungen gibt es für Pädagogen? Wie führe ich das Buddy-Prinzip ein, wo drauf muss ich achten, was sind mögliche Stolpersteine?
Das Buddy-Prinzip ist geknüpft an einen Wechsel in der Lehrerrolle, denn als Lehrender gebe ich etwas ab und das muss ich zulassen können. Ohne eine Phase der Selbstreflexion wird das schwierig, dazu muss ich, zum Beispiel im Rahmen eines Fortbildungstages, Platz einräumen. Auch die Schüler*innen, die als Buddys unterwegs sind benötigen eine Einführung und begleitende Unterstützung. Sie müssen erst lernen, was es bedeutet zu helfen und für jemanden da zu sein und es scheint dringend erforderlich, dass sie in ihrer Rolle nicht allein gelassen werden – es können immer wieder Probleme auftauchen, denen sie alleine nicht gewachsen sind und auch nicht sein müssen. Hier müssen professionell ausgebildete Kolleg*innen im Hintergrund sein (über BuddY/ educationY), die dies übernehmen können.
Was bedeutet das für die Pädagogen vor Ort?
Lüders: Da muss man unterscheiden zwischen den hochgradig professionalisierten Formen der Jugendarbeit und der verbandlichen Jugendarbeit, die zu einem großen Teil ehrenamtlich getragen wird von jungen Menschen. Mit letzteren ist sicher einiges im Hinblick auf Inklusion zu bewegen, aber sie brauchen Unterstützung. Für das professionelle Personal bedeutet es: Organisationsentwicklung und Weiterbildung. Und ganz wichtig: Dialogorte. Das pädagogische Personal der Jugendhilfe muss in den Austausch treten mit dem pädagogischen Personal der Behindertenhilfe.
Corsa: Das Wichtigste sind inklusionsbegeisterte Fachkräfte. Wir können es nicht den Ehrenamtlichen aufladen. Was sollen die denn noch alles machen? Ich wünsche mir, dass die im gemeinsamen Sozialraum arbeitenden Fachkräfte sich treffen und dabei lernen, miteinander zu reden.
Lüders: Wenn Leute aus der Jugendarbeit über einen Jugendlichen reden, sprechen sie über seine Interessen. Wenn Leute aus der Behindertenhilfe über den Jugendlichen reden, sprechen sie über seine Förderbedarfe. Diese unterschiedlichen Perspektiven gilt es zusammenzubekommen. Natürlich dürfen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Jugendarbeit die Förderbedarfe eines jungen Menschen nicht ignorieren. Aber die Kolleginnen und Kollegen aus der Behindertenhilfe müssen auch sehen, dass dieser junge Mensch mehr ist als jemand, der beispielsweise eine Sinnesbehinderung hat und diese und jene Unterstützung braucht. Wenn ein solches Gespräch gelingt, sind wir einen Schritt weiter.
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