Standpunkt der Aktion Mensch
Die Aktion Mensch macht inklusive Bildung zum Schwerpunktthema. Im Interview spricht Vorstand Armin v. Buttlar über die Bedeutung von gemeinsamem Leben und Lernen von Anfang an in einer immer vielfältiger werdenden Gesellschaft.
Herr v. Buttlar, warum ist inklusive Bildung ein Schwerpunktthema der Aktion Mensch?
Für uns ist das ein logischer Schritt. Die Aktion Mensch macht sich seit jeher stark für eine inklusive Gesellschaft. Damit alle Menschen gleichberechtigt am gesellschaftlichen Leben teilhaben können, ist Bildung ein wichtiger Schlüssel. Sie ist ein wesentlicher Teil unseres Lebens und die Voraussetzung, die uns dazu befähigt mit den Stärken, die wir haben, diese Gesellschaft auch mitzugestalten.
Wie und wo wir lernen, prägt uns und es ist entscheidend für unsere Persönlichkeitsentwicklung und die Art und Weise, wie wir miteinander umgehen und zusammenleben.
In der Öffentlichkeit wird über inklusive Bildung kontrovers diskutiert. Einige Gegner erklären das Ganze für gescheitert.
Wir können bei der Umsetzung von inklusiver Bildung das Wie, aber nicht das Ob diskutieren.
Deutschland hat sich immerhin zur UN-Behindertenrechtskonvention bekannt, die inklusive Bildung als Menschenrecht festschreibt. Auch die Vereinten Nationen haben eine globale Bildungsagenda beschlossen, die Inklusion als Leitprinzip vorgibt.
Bis 2030 soll sichergestellt sein, dass alle Menschen inklusive, chancengerechte und hochwertige Bildung erhalten und Möglichkeiten zum lebenslangen Lernen gefördert werden. Wir haben also noch viel zu tun.
Lehrkräfte und außerschulische Pädagogen äußern sich heute oft noch skeptisch über Inklusion ...
Und das muss man ernst nehmen. Pädagogen sind die Experten des Alltags, ob in Schule, im Ganztag, in Vereinen und der offenen Kinder- und Jugendarbeit. Sie sind täglich damit konfrontiert, dass die Rahmenbedingungen – das gilt im Besonderen für die Schule - oft nicht optimal sind.
Es fehlt nach wie vor an personellen und finanziellen Ressourcen, damit sie ihre Arbeit inklusiv gestalten können. Aber viele gute Beispiele, schulische wie auch außerschulische, zeigen, dass die Ressourcen nicht das einzige sind, was zählt. Es geht darum, eine Vision zu haben, die Dinge anzupacken und sich auf den Weg zu machen. Inklusion ist eben zu allererst eine Haltungsfrage, die Mut und vor allem auch Verbündete braucht. Damit das Verständnis dafür wächst, ist es auch von zentraler Bedeutung, die Aus- und Fortbildung von Pädagogen zu verändern.
Und es braucht natürlich Austausch und Vernetzung: Ich muss Inklusion selber sehen und erleben, bevor ich wirklich verstehe, wie es gut gehen kann.
Was glauben Sie – wie lassen sich Kritiker überzeugen?
Hier können wir sehr viel von Eltern mit Inklusionserfahrung lernen. Mütter und Väter, deren Kinder eine inklusive Schule besuchen, sehen Inklusion mehrheitlich positiv. So wurden häufig aus anfänglichen Skeptikern Befürworter. Inklusive Bildungsarbeit ist keine Aufgabe, die nebenher laufen kann.
Es braucht Konzepte, transparente und gute Kommunikation, viel Teamarbeit. Das wissen vor allem auch Eltern. Eine gute Zusammenarbeit zwischen Schule und Eltern kann vieles möglich machen, auch gegen Widerstände.
Und ja, das Gelingen von Inklusion braucht Rahmenbedingungen, aber noch mehr braucht es inspirierte Menschen, die von den Herausforderungen angespornt werden und sich nicht entmutigen lassen.
Woran liegt das? Was ist der Mehrwert von gemeinsamem Lernen?
Gemeinsames, lebensbegleitendes Lernen prägt das soziale Verhalten und führt dazu, dass Barrieren im Umgang miteinander erst gar nicht entstehen. In einer immer vielfältiger werdenden Gesellschaft ist das enorm wichtig. Wir brauchen Kinder, Jugendliche aber auch Erwachsene, die Rücksicht auf die Bedürfnisse anderer nehmen.
Wer von Anfang an mit Vielfalt aufwächst, empfindet Inklusion gar nicht als etwas Besonderes – ein klarer Vorteil. Wer offen durch die Welt geht und sich in andere hineinversetzen kann, profitiert davon in allen Lebensbereichen. Empathie und eine ausgeprägte Sozialkompetenz sind Schlüsselkompetenzen für beruflichen Erfolg.
Wer profitiert von inklusiver Bildung?
Wenn sie richtig umgesetzt wird, profitieren nicht nur Menschen mit Behinderung oder Förderbedarf davon, sondern alle. Gemeinsames Lernen bedeutet ja schließlich individuelle Förderung und Unterstützung. Das heißt, dass jedes Kind in seinen persönlichen Fähigkeiten gefördert wird und die Anerkennung und Unterstützung erfährt, die es braucht.
Das gilt für Menschen mit Einschränkungen genauso wie für Hochbegabte. Das Ziel dabei ist es, dass jeder sich im Rahmen seiner Möglichkeiten so gut wie möglich entwickeln kann.
Im Fokus der Inklusionsdebatte steht eindeutig Schule . . .
Das stimmt: Schließlich ist Schule für Kinder und Jugendliche über Jahre der Lebensmittelpunkt und der wichtigste Bildungsort. Allerdings verdeckt die aktuelle Diskussion um Inklusion an Schulen, dass auch andere Bildungsorte viel zur erfolgreichen Umsetzung von inklusiver Bildung und Persönlichkeitsentwicklung beitragen können: Bildung findet eben nicht nur in Schule statt.
Mindestens genauso wichtig sind außerschulische Lernorte. Wir müssen deshalb auch im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe oder in Sportvereinen inklusiv arbeiten. Es gibt auch dort bereits viele hervorragende Beispiele, die wir durch Förderprojekte der Aktion Mensch kennen und die seit Jahren erfolgreiche inklusive Arbeit leisten.
Ich glaube, dass schulische und außerschulische Akteure viel voneinander lernen können. Aus Sicht der Aktion Mensch ist das ein Handlungsfeld mit viel Potential, um Inklusion an Bildungsorten weiter voranzutreiben.
Was braucht es in Zukunft, damit Inklusion im Bildungsbereich Erfolg hat?
Sehr viel Austausch und inklusive Begegnungen. Nur so kann Inklusion im weitesten Sinne Schule machen.
Es gibt seit Jahren erfolgreiche Konzepte und Modelle für die Umsetzung – sowohl schulisch, als auch in der außerschulischen Projektarbeit. Davon müssen die pädagogischen Akteure aber auch erfahren. Es ist wichtig, dass Pädagogen zum Beispiel in inklusiv arbeitenden Schulen oder Projekten der Kinder- und Jugendarbeit hospitieren, eigene Praxiserfahrungen machen und diese in ihre eigenen Arbeitsumfelder mitnehmen und dort anwenden. So finden gute Konzepte auch ihren Weg in den Alltag, im Kleinen wie im Großen.
Gleichzeitig ist die Politik gefordert: Bund, Länder und Kommunen müssen zusammenarbeiten. Und es müssen mehr personelle und finanzielle Ressourcen zur Verfügung gestellt werden. Außerdem muss es klare Konzepte und Rahmenbedingungen für die Umsetzung von inklusiver Bildung geben, an denen sich Schulen und außerschulische Träger orientieren können.
Worin sehen Sie denn in Sachen inklusive Bildung die wesentliche Aufgabe der Aktion Mensch?
Natürlich in der Aufklärung rund um das Thema Inklusion. Wir sensibilisieren Menschen dafür, zeigen ihnen die Vorteile von gemeinsamem Leben und auch Lernen.
Als größte Förderorganisation sind wir gut vernetzt, finanzieren viele gute und innovative Projekte im außerschulischen Bereich und an der Schnittstelle zwischen Schule und außerschulischen Trägern, kennen entsprechend viele gute lokale Initiativen und regionale Projekte.
Künftig wollen wir diese noch stärker als bisher bei der Vernetzung unterstützen und so dafür sorgen, dass der Wissenstransfer und die Zusammenarbeit zwischen Schulen und außerschulischen Trägern untereinander einfacher werden.
Wie wollen Sie die Akteure im Bildungsbereich erreichen?
Dafür gehen wir verschiedene Wege. Auf dem Bildungsportal der Aktion Mensch können sich Pädagogen, Lehrkräfte, Projektleiter, Mitarbeiter der Kinder- und Jugendhilfe sowie andere Interessierte rund um das Thema inklusive Bildung informieren und erhalten Anregungen für die inklusive Praxis.
Projektförderung im außerschulischen Bereich, Aufklärungskampagnen und innovative Veranstaltungskonzepte oder Webinare sind ebenfalls wichtig. Auch hierfür schaffen wir in den nächsten zwei Jahren unterschiedliche neue Angebote.
Informationen zum Download
Lesetipp: Magazin "Menschen - inklusiv leben"
Eltern, Pädagogen, Wissenschaftler, eine Filmemacherin und Kinder berichten in dieser Ausgabe von ihren Erfahrungen mit der Umsetzung von Inklusion.
Handbuch „Auftrag Inklusion - Perspektiven für eine neue Offenheit in der Kinder- und Jugendarbeit“
Die Publikation vermittelt inhaltliche Grundlagen und Diskussionsansätze und gibt Tipps und Handlungsempfehlungen. Zudem zeigen gelungene Projektbeispiele, wie der inklusive Gedanke in der Kinder- und Jugendarbeit gelebt werden kann.