Das wir gewinnt
Eine Frau, Ende 60, mit braunen Haaren im Pagenkopfschnitt, geschminkten Lippen einer Kette mit dicken Kugeln und blauem Kostüm lächelt leicht an der Kamera vorbei. Im Hintergrund etwas verschwommen das Logo der Lebenshilfe.
Ulla Schmidt, die Bundesvorsitzende der Lebenshilfe.

Lebenshilfe-Aufruf: Keine Stimme der AfD

Die Bundesvereinigung Lebenshilfe ruft Wähler*innen dazu auf, ihre Stimme nicht der AfD zu geben. Ihrer Meinung nach trage die Partei als parlamentarischer Arm rechtsextremer Strömungen dazu bei, dass sich Menschen mit Behinderung, insbesondere diejenigen mit einer so genannten geistigen Behinderung oder psychischen Erkrankung, in Deutschland wieder zunehmend bedroht fühlen. Die Bundesvorsitzende der Lebenshilfe, Ulla Schmidt, im Interview über die Hintergründe 

Interview

Frau Schmidt, die Lebenshilfe ruft explizit dazu auf, bei Wahlen nicht der AfD die Stimme zu geben. Was hat Ihre Vereinigung zu diesem Schritt bewogen?

Ulla Schmidt: Die AfD hat sich über die Jahre hinweg immer radikaler geäußert, wenn es um Menschen mit Behinderung ging, vor allem im Hinblick auf Menschen mit einer so genannten geistigen oder psychischen Beeinträchtigungen. Wenn man die entsprechenden Aussagen der AfD genauer unter die Lupe nimmt, auch in Anfragen an die Bundesregierung, wird der Grundtenor der Partei immer deutlicher: Nämlich, dass es wertes und unwertes Leben gibt, dass Behinderungen möglichst vermieden werden und behinderte Kinder am besten getrennt von, wie es die AfD sagt, gesunden Kindern unterrichtet werden sollten. Diese zunehmend erkennbare gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit der AfD gegenüber behinderten Menschen hatte dazu geführt, dass bereits im Superwahljahr 2021 mehr als 700 Verbände einen gemeinsamen Wahlaufruf gemacht haben: „Wir für Menschlichkeit und Vielfalt!“ Das war eine bewusste Abgrenzung zur Position der AfD oder anderer rechtspopulistischer und rechtsradikaler Organisationen, die Ausgrenzung wollen statt Teilhabe. Wir als Lebenshilfe haben schon 2017 einen Unvereinbarkeitsbeschluss gefasst, wie ihn jetzt auch die Kirchen und viele andere Organisationen gefasst haben, weil unserer Ansicht nach die Auffassungen der AfD nicht mehr Artikel 1 des Grundgesetzes entsprechen, nämlich dass die Würde des Menschen unantastbar ist.

Eine Sprechblase mit der Aufschrift: Deine Wahl für Inklusion.

Woran machen Sie das fest?

Zum Beispiel sagt Herr Höcke, der ja immerhin Ministerpräsident in Thüringen werden möchte, dass gesunde Gesellschaften gesunde Schülerinnen und Schüler brauchen. Und er sagt, dass Inklusion ein „Ideologieprojekt“ sei, das gesunde Kinder und Jugendliche daran hindere, zu guten Fachkräften zu werden. Damit verneint er die gleichberechtigte Teilhabe aller, die doch nach der Behindertenrechtskonvention ein unveräußerliches Menschenrecht ist. Das ist ein Angriff auf elementare Rechte von Menschen mit Behinderung. Oder schauen Sie sich die neuesten Äußerungen des ehemaligen Spitzenkandidaten der AfD bei der Europawahl, Maximilian Krah, an, der ja trotz der Skandale um seine Person wieder im Europäischen Parlament sitzt: Bezogen darauf, dass die ARD erfreulicherweise, wie ich finde, die „Tagesschau“ in ihrer Mediathek jetzt auch in Einfacher Sprache bereitstellt, bezeichnete Krah dieses Angebot in einem TikTok-Video als Nachrichten für Idioten. Da brauche ich wohl nichts mehr über die Verachtung und Abwertung gegenüber der Zielgruppe von Einfacher Sprache zu sagen, die in einer solchen Äußerung steckt.

Die Position der AfD zu inklusiver Bildung scheint zu sein, dass die in der UN-BRK geforderte Teilhabe im Bildungsbereich durch die Förderschulen in Deutschland gewährleistet sei und dass Kinder mit Behinderung sich dort am besten entwickeln könnten. Was sagen Sie Eltern von Kindern mit einer Behinderung, die wie die AfD der Meinung sind, dass ihr Kind auf einer Förderschule besser aufgehoben ist und dieses Angebot erhalten bleiben soll?

Was Eltern für ihre Kinder entscheiden, und das, was die AFD sagt, ist zweierlei. Zuerst müsste die AfD die Behindertenrechtskonvention erstmal richtig lesen. Denn da steht drin, dass jeder Schüler und jede Schülerin das Recht auf Teilhabe am Unterricht in allgemeinbildenden Schulen hat. Das Recht, nicht die Pflicht. Aber dieses Recht verpflichtet uns, Schulen Schritt für Schritt so zu gestalten, dass sie die Bedingungen für Inklusion erfüllen. Es gibt schon viele Schulen, die das hervorragend machen. Das kann ich als ehemalige Sonderpädagogin beurteilen. Und ich kenne viele Eltern von Kindern ohne Behinderung, die sagen: Nie würden wir unser Kind von dieser Schule nehmen. Denn sie lernen dort so viel, unter anderem dadurch, dass die Klassen kleiner sind. Aber natürlich müssen die personellen Ressourcen und die Barrierefreiheit gewährleistet sein. Und solange das nicht so ist, oder zum Beispiel in einer ländlichen Region die nächste inklusive Regelschule viel zu weit entfernt wäre, haben die Eltern natürlich das Recht, ihre Kinder in eine Förderschule zu schicken. Niemand zwingt Eltern zur inklusiven Beschulung. Der Staat hat aber die Pflicht, inklusiven Unterricht bereitzustellen und dafür die Bedingungen zu schaffen. Die AfD dagegen will inklusive Beschulung generell nicht. Sie will behinderte Kinder weiter in Sondereinrichtungen stecken. Und danach in Sondereinrichtungen für Erwachsene, so dass sie immer in Parallelwelten bleiben.

Für mich ist klar: Wer antisemitisch ist, wer rassistisch ist, der spricht auch Menschen mit Behinderung ihre Menschenwürde ab.

Ulla Schmidt, Bundesvorsitzende der Lebenshilfe

Es gab vor wenigen Wochen einen Anschlag auf eine Lebenshilfeeinrichtung in Mönchengladbach. An der beschädigten Tür des Wohnheims wurde ein Stein gefunden, auf dem stand, Euthanasie sei die Lösung. Sehen Sie einen Zusammenhang zwischen Äußerungen von AfD-Politiker*innen und solchen Gewalttaten?

Ich sehe den Zusammenhang, auch wenn ich nicht sagen kann, dass AfD-Politiker oder Politikerinnen dazu aufgerufen hätten. Aber sie haben den Boden bereitet mit dem, was sie sagen. Ich habe selbst noch als Bundestagsabgeordnete im Parlament mitbekommen, wie mit dem Einzug der AfD die Sprache dort verrohte, wie das Miteinander verrohte, wie wirkliche Hasstiraden auf Menschen, die anders sind, gehalten wurden. Und für mich ist klar: Wer antisemitisch ist, wer rassistisch ist, der spricht auch Menschen mit Behinderung ihre Menschenwürde ab, weil alldem eine gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit zugrunde liegt: Gegen Menschen, die nicht ins völkische Weltbild passen.

Der Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz, Thomas Haldenwang, warnte in einem Spiegel-Interview vor Kurzem, dass in Teilen der AfD gegen unsere Verfassung agiert und insbesondere gegen das Menschenwürdeprinzip verstoßen werde. Es gehe diesen Kräften darum, das, was früher unsagbar war, wieder sagbar zu machen.

Da müssen wir wirklich aufpassen. Denn die Verrohung der Sprache führt ja, wie wir sehen, auch zu einer Verrohung in der Gesellschaft und zu einer immer größeren Spaltung. Und die, die am Ende am meisten darunter leiden, sind diejenigen, die mehr Unterstützung brauchen und die darauf angewiesen sind, dass unsere Gesellschaft solidarisch ist. Insofern kann man zwar nicht sagen, dass die AfD direkt mit den Anschlägen zu tun hat, aber mittelbar und indirekt bereitet sie den Boden dafür. Immerhin ist die Partei der parlamentarische Arm der Rechtspopulisten und auch der Rechtsradikalen. Das Bundesamt für Verfassungsschutz schätzt, dass rund 10.000 Mitglieder der AfD und ihrer Parteijugend rechtsextremen Strömungen zuzuordnen sind. Die Partei hat das Potential, in der Gesellschaft wieder die Vorstellung zu wecken, dass es wertes und unwertes Leben gibt.

Sehen Sie Anzeichen dafür?

In der jüngsten „Mitte-Studie“ der Friedrich-Ebert-Stiftung, die im September 2023 erschienen ist, stimmten fast 6 Prozent der Befragten aus der gesellschaftlichen Mitte der Aussage, dass es wertvolles und unwertes Leben gebe, voll und ganz zu. Das waren mehr als doppelt so viele, wie in den Umfragen davor seit 2014. Weitere 6 Prozent stimmten der Aussage immerhin noch überwiegend zu und 12 Prozent teils teils. Zusammengenommen sind das 24 Prozent der Befragten, die diese Aussage mindestens teilweise unterstützen, was mich extrem beunruhigt.
Die Drohung von Mönchengladbach, „Euthanasie ist die Lösung“, bezieht sich ja eindeutig auf die Verbrechen im Dritten Reich, bei denen damals Menschen mit Behinderung unter dem Deckmantel der Euthanasie brutal ermordet, und zuvor oft zwangssterilisiert oder zu medizinischen Zwecken missbraucht wurden. Vor dem Hintergrund dieser abscheulichen Taten war mit der Gründung der Lebenshilfe in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg auch der Wille und das Ziel der Eltern verbunden, dass hierzulande nie wieder ein Klima entstehen darf, in dem ihre Kinder derartig stigmatisiert werden.

Erleben Sie innerhalb der Lebenshilfe, dass Mitglieder wieder mehr Angst haben, sich Sorgen machen?

Na klar haben die Menschen Angst, die in der Wohnstätte leben, auf die der Ziegelstein geworfen wurde. Sie fragen sich: Warum schmeißt jemand diesen Stein? Warum will jemand, dass wir nicht mehr da sind? Auch die Eltern und Geschwister, mit denen ich vor Ort gesprochen habe, sagen mir, dass sie Angst haben. Und das setzt sich in vielen Bereichen fort: Ich höre von Menschen mit Behinderung, die sich zunehmend unwohl fühlen in der Öffentlichkeit, je nachdem, welche Gruppen zusammenkommen. Ich erinnere mich noch an die 1980er Jahre. Damals sorgten sich Eltern, die behinderte Kinder hatten: Was passiert denn, wenn ich eines Tages nicht mehr da bin?

Eltern sorgen sich, dass sich unsere Gesellschaft durch die rechtsradikalen Strömungen so verändert, dass ihre Kinder trotz aller Angebote plötzlich in Deutschland nicht mehr sicher sind.

Ulla Schmidt, Bundesvorsitzende der Lebenshilfe

Weil zum ersten Mal eine Generation von Menschen mit Behinderung absehbar ihre Eltern überleben würde und es damals noch wenig Angebote für ein selbständiges Leben von Menschen mit Behinderung gab?

Ja, genau. Inzwischen gibt es eine breite Auswahl an Wohn- und Arbeitsangeboten, viel Unterstützung aus der Gesellschaft aber auch von Organisationen wie der Lebenshilfe, oder der Caritas, der Diakonie, dem Paritätischen und anderen. Das hat den Eltern Ruhe gegeben. Sie wissen heute: Wenn ich nicht mehr da bin, sind andere da, die sich um unsere Kinder kümmern. 
Jetzt kommen die selben Eltern wieder zu mir und sagen: Frau Schmidt, das macht mir alles Angst. Wo soll das denn hinführen, wenn das so weitergeht? Hier sind die ersten Steine, morgen ist es was anderes. Die Eltern sorgen sich, dass sich unsere Gesellschaft durch die rechtsradikalen Strömungen so verändert, dass ihre Kinder trotz aller Angebote plötzlich in Deutschland nicht mehr sicher sind. Das ist etwas, das mich sehr, sehr tief berührt. Und deswegen haben wir als Lebenshilfe gemeinsam beschlossen, zu sagen: „Teilhabe und Vielfalt wählen. Keine Stimme für die AfD“. Denn die AfD ist die parlamentarische Repräsentanz dieser rechtsradikalen Strömungen.

Haben Sie selbst auch den Eindruck, dass sich das Klima gegenüber Menschen mit Behinderung in den vergangenen Jahren in Deutschland geändert hat?

Ja, leider. Immer öfter gibt es Pöbeleien oder Drohungen gegenüber Menschen mit Behinderung. Es gibt Leute, die vor ihnen ausspucken. Ich saß vor kurzem in einer U-Bahn, in der auch ein Pärchen saß; zwei Männer, denen man ansah, dass sie mit einer Behinderung leben. Sie hielten sich verliebt an der Hand, und schon sah ich die Blicke anderer Fahrgäste nach dem Motto: „Das muss doch nicht sein.“ Ich dachte in dem Moment: Wenn jetzt irgendeiner was sagt, dann spring ich auf. Dabei waren wir vor nicht allzu langer Zeit auf dem Weg, dass das besser wurde. Denken sie nur mal an das Sommermärchen mit den Special Olympics.

Sie meinen das größte inklusive Sportfest der Welt, das vergangenes Jahr hier in Berlin stattfand?

Da war so viel Freude. Überall gab es so viel Unterstützung. Viele Besucherinnen und Besucher waren begeistert, was die Teilnehmenden alles können. Das Fernsehen hat in den Nachrichten berichtet und es herrschte so eine offene Haltung zu Inklusion. Im Vergleich dazu merkt man jetzt einen deutlichen Rückschlag.
Das ist der Grund, warum wir als Lebenshilfe uns mit aller Kraft dagegen wenden. Und ich finde es toll, dass wir mehr als 30 Sozialverbände sind, die sich gemeinsam gegen die Äußerungen von Herrn Krah positioniert haben. Wir brauchen eine Gesellschaft, die behinderte Menschen in ihre Mitte nimmt. Denn sie gehören in die Mitte. Und wir brauchen verantwortliche Politikerinnen und Politiker in Bund, Ländern und Kommunen, die endlich mal mit aller Kraft daran arbeiten, die UN-Behindertenrechtskonvention, die Deutschland ratifiziert hat und die damit deutsches Recht unmittelbar bindet, wirklich umzusetzen; und die dafür werben, dass Menschen offen sind für eine inklusive Gesellschaft als Grundlage einer demokratischen Gesellschaft. Wenn wir alle zusammen an einem Strang ziehen, können wir viel gewinnen. Davon bin ich überzeugt.

Ulla Schmidt 2

Ulla Schmidt

geboren 1949 in Aachen, ausgebildete Sonderpädagogin, gehörte von 1990 bis 2021 für die SPD dem Deutschen Bundestag an. Ihre politischen Themengebiete waren Arbeit, Soziales, Familie und Gesundheit. Von 2001 bis 2009 war sie Bundesministerin für Gesundheit, von 2013 bis 2017 Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages. 2012 wurde sie zur Bundesvorsitzenden der Bundesvereinigung Lebenshilfe gewählt.  

Ulla Schmidt ist Mitglied im Aufsichtsrat der Aktion Mensch.

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