„Wir müssen die Sonderwelten überwinden“
Über
Die Schwerpunkte in der parlamentarischen Arbeit orientieren sich häufig an den Gesetzgebungsprozessen, die von der Regierung vorgegeben werden. Leider passierte da nicht viel in Bezug auf Inklusion. Zu den Themen, die ich selbst gesetzt habe, gehört zum Beispiel das Thema Rechte. Wie können wir erreichen, dass Menschen mit Behinderung leichter an Leistungen kommen, die ihnen zustehen? Wie kann man das System entbürokratisieren, damit Menschen mit Behinderung nicht ständig mit Behörden kämpfen müssen? Dazu habe ich eine Umfrage in verschiedenen Bereichen gemacht, zum Beispiel zu Erfahrungen mit Eingliederungshilfe, Gesundheitssystem, Schulbegleitungen, Arbeitsmarktsystem, Hartz IV etc. Viele Menschen mit Behinderung haben sich daran beteiligt und von gravierenden Problemen berichtet. Leistungsrechte werden sehr häufig nicht gewährt. Die Leute müssen Widersprüche einlegen und vor Gerichte ziehen, wenn sie die Kraft dazu haben.
Auch das Thema der Barrierefreiheit beschäftigt mich schon sehr lange. Leider ist die Mehrheit im Bundestag nicht bereit, umzusetzen, was in anderen Ländern schon gängige Praxis ist, nämlich die Privatwirtschaft zur Barrierefreiheit zu verpflichten.
Ein weiteres großes Thema, das mich bewegt, ist die Deinstitutionalisierung, also die Überwindung von Sonderwelten für Menschen mit Behinderung. Laut UN-Behindertenrechtskonvention hat jeder Mensch ein Recht darauf, zu entscheiden, wie und wo er leben möchte. Wir setzen uns dafür ein, dass Mängel im Bundesteilhabegesetz behoben werden, damit diese Rechte endlich umgesetzt werden.
Das hat auch mit den erwähnten Sonderwelten für Menschen mit Behinderung zu tun. Wir haben viel aufzuarbeiten, was den Umgang mit der Pandemie anbelangt. Wir wissen heute, dass sehr viele Menschen gestorben sind, die in Einrichtungen gelebt haben. In erster Linie natürlich in Pflegeeinrichtungen, aber auch in Einrichtungen für Menschen mit Behinderung. Alle Orte, in denen viele Menschen gesammelt unterkommen, sind gefährdet, also auch Gefängnisse oder Einrichtungen für Asylbewerber*innen. Nicht nur die Pandemie macht das deutlich, sondern auch die jüngsten Morde an Menschen mit Behinderung in einer Einrichtung in Potsdam. Bei den Überschwemmungen an der Ahr sind zwölf Menschen mit Behinderungen in einer Einrichtung ungeschützt ertrunken. Wir müssen uns jetzt dringend Gedanken darüber machen, wie wir diese Einrichtungen auflösen können und wie wir ein volles Wunsch- und Wahlrecht umsetzen können. Das war ein Thema, das in der Pandemie zu keinem Zeitpunkt im Fokus stand, das wir jetzt aber unbedingt öffentlich debattieren müssen.
Ein weiteres Thema ist die Impfpriorisierung. Während Leute, die in Werkstätten arbeiten oder in stationären Einrichtungen untergebracht sind, bei der Impfpriorisierung ganz vorne standen, hat man diejenigen, die selbstbestimmt mit Assistenz zuhause leben, schlicht außen vor gelassen.
Wir müssen auch über das Thema Triage sprechen, also, wer eine intensivmedizinische Versorgung bekommen hätte, wenn die Zahlen weiter gestiegen wären. Intensivmediziner hatten Empfehlungen formuliert, bei denen Menschen mit Behinderung hinten runtergefallen wären. Deswegen läuft nach wie vor eine Klage vor dem Bundesverfassungsgericht.
An den Sterbezahlen in der zweiten Welle sieht man, dass viele Menschen aus Einrichtungen gar nicht mehr in die Krankenhäuser beziehungsweise auf die Intensivstationen gebracht worden sind. Diese brutalen Arten von Benachteiligungen und Diskriminierungen hätte ich mir vor der Coronapandemie gar nicht vorstellen können. Das muss jetzt aufgearbeitet werden und Konsequenzen haben.
Das Thema ist für mich überfällig. Auf europäischer Ebene wird darüber viel intensiver und realitätsnäher diskutiert. Ich habe den Eindruck, wir sind da in Deutschland noch in den 1970er-Jahren steckengeblieben.