Was das EU-Parlament für Inklusion in Europa tut
Frau Langensiepen, warum ist es wichtig, zur Europawahl zu gehen, wenn man etwas für Inklusion in Deutschland erreichen möchte?
Jede Wahl ist wichtig. Wir haben die Möglichkeiten, wählen zu gehen, das kann man in vielen anderen Ländern nicht. Und jede Stimme zählt. Das merken wir bei unserer Arbeit im Europäischen Parlament. Wir haben keine Koalitionsverträge. Wir haben bei Abstimmungen auch keinen Fraktionszwang. Das bedeutet: Wir suchen bei all unseren Entscheidungen fraktionsübergreifend Mehrheiten. Wir dürfen als Parlament zwar selbst keine Gesetze auf den Weg bringen, aber wir prüfen Gesetzesvorlagen der Europäischen Kommission und können dabei Änderungen einfordern, beispielsweise dahingehend, dass die Interessen von Menschen mit Behinderung besser berücksichtigt werden. Dafür braucht es aber eine Mehrheit im Parlament, der das wichtig ist. Die Abgeordneten, die bei der Europawahl ins EU-Parlament gewählt werden, vertreten die Stimmen der Bürger*innen, die sie gewählt haben. Daher ist es umso wichtiger, dass jede demokratische Stimme einfließt.
Was hat die EU für die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention in Europa in den vergangenen Jahren bewirkt?
Auf europäischer Ebene werden für die Mitgliedsstaaten bindende Gesetze beschlossen und Richtlinien verabschiedet sowie Gelder bewilligt, die die Umsetzung von Inklusion in den Mitgliedsstaaten voranbringen.Ich bin seit 2019 im Europäischen Parlament. In diesen Jahren war das Leuchtturmprojekt sicherlich der EU-Behindertenausweis. Den haben behinderte Menschen seit langem gefordert. Jetzt ist er beschlossen. Wenn er eingeführt ist, wird er Menschen mit Behinderungen vor allem beim Reisen von Nutzen sein und ihnen garantieren, dass ihr nationaler Behindertenstatus endlich auch im EU-Ausland anerkannt wird. Nationale Vorteile im Transport- oder Kultursektor gelten dann beispielsweise in Frankreich nicht nur für den französischen Menschen mit Behinderung, sondern auch für den deutschen oder polnischen Besucher mit Behinderung.
Ein großer Erfolg war sicher auch der European Accessibility Act.
Ja, die Richtlinie für EU-weite Barrierefreiheitsanforderungen an digitale Produkte und Dienstleistungen wurde 2021 verabschiedet. Die Mitgliedsstaaten mussten sie in entsprechende nationale Gesetze gießen. In Deutschland ist daraufhin das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz erlassen worden. Es definiert, erstmals auch für private Wirtschaftsakteure, Barrierefreiheitsanforderungen an digitale Produkte und Dienstleistungen, die nach dem 28.06.2025 angeboten werden. Dies umfasst unter anderem den gesamten Online-Handel, Hardware, Software, aber auch Online-Angebote im überregionalen Personenverkehr oder von Bankdienstleistungen.
Wir als EU-Parlament können leider keine Gesetze initiieren, aber wir können kontrollieren, was passiert oder was nicht passiert und damit eine Menge voranbringen.
Gibt es auch Ziele, die Sie als Parlament nicht erreicht haben?
Nach wie vor steht eine umfassende Antidiskriminierungsrichtlinie aus. Es gibt zwar einen Entwurf der EU-Kommission dazu, der aber leider seit Jahren nicht verabschiedet werden kann, weil er von den Minister*innen einiger Mitgliedsstaaten im Europäischen Rat verschleppt wird. Auch in Berlin, das muss man klar sagen, besteht in der Bundesregierung kein einheitlicher Wille, diese EU-Richtlinie durchkommen zu lassen. Daran hakt es oft in Europa: Wir als Parlament und die Kommission wollen ein Thema voranbringen, aber die Regierungen der Mitgliedstaaten sind häufig die, die sagen: „Nö, muss nicht sein.“
Welchen Einfluss hat das EU-Parlament, das ja am 9. Juni gewählt wird, auf die Impulse, die die EU für die Umsetzung von Inklusion setzt?
Wir können, wie gesagt, leider keine Gesetze initiieren, aber wir können kontrollieren, was passiert oder was nicht passiert und damit einer Menge voranbringen. Das Europäische Parlament prüft Gesetzesvorlagen der Europäischen Kommission und kann bei Bedarf Änderungen fordern. Wir sind also diejenigen, die der Kommission sagen: Schaut mal, das habt ihr noch nicht so richtig schick gemacht, da fehlt noch etwas, beispielsweise im Hinblick auf Menschen mit Behinderung.Wir üben auch politischen Druck auf die Kommission aus. Beispielsweise hat das Parlament auf meine Initiative hin auf ehrgeizige Ziele für die neue EU-Strategie zugunsten von Menschen mit Behinderung gedrängt. 2021 hat das Parlament einen ausführlichen Bericht über die Lage von Menschen mit Behinderung auf dem Arbeitsmarkt verabschiedet, an dem ich maßgeblich mitgearbeitet habe. Darin fordern wir die Kommission auf, eine Leitlinie zu verfassen, die alle Mitgliedsstaaten zu Maßnahmen für einen inklusiveren Arbeitsmarkt verpflichtet und gleichzeitig sicherzustellen, dass keine EU-Mittel mehr in abgeschottete Parallelstrukturen wie beispielsweise Werkstätten fließen, wenn diese keine Aussicht auf Beschäftigung auf dem offenen Arbeitsmarkt bieten.
Wie bringen Sie im Parlament und gegenüber der Kommission Inklusions-Themen voran?
Innerhalb des Europäischen Parlaments bin ich Vorsitzende der interparlamentarischen Gruppe von Menschen mit Behinderungen. Wir arbeiten eng mit dem europäischen Dachverband für die Interessen von Menschen mit Behinderungen (European Disability Forum) zusammen und tragen unsere Forderungen an die EU-Kommissarin für Gleichstellung, Helena Dalli, heran.
Um die Interessen von Menschen mit Behinderung am Ende des Tages in Gesetze einfließen zu lassen, brauchen wir entsprechende Mehrheiten im Parlament, um uns gegen Abgeordnete durchzusetzen, die sagen: „Braucht es nicht, alles schon super so“. Nur mit einer progressiven Mehrheit können wir als Kontrollgremium und treibende Kraft darauf Einfluss nehmen, dass sich die Situation von Menschen mit Behinderung in Europa verbessert.
Zur Person
Katrin Langensiepen sitzt seit 2019 für Bündnis 90/ Die Grünen im Europaparlament. Sie gehört dort der Fraktion The Greens/EFA an und ist deren Sozialpolitische Sprecherin. Als Vize-Vorsitzende des Ausschusses für Beschäftigung und soziale Angelegenheiten beschäftigt sie sich insbesondere mit den Themen Wohnen, Grundsicherung und Armutsbekämpfung. Die 45-Jährige Niedersächsin ist die einzige Europaabgeordnete mit sichtbarer Behinderung und leitet die interparlamentarische Gruppe von Menschen mit Behinderung des Europäischen Parlamentes.
Eine weitere Aufgabe des EU-Parlaments ist die Kontrolle der Ausgaben aus dem EU-Haushalt. Ist auch das ein Hebel, um die Umsetzung von Inklusion zu verbessern?
Ja, ein sehr wichtiger. Wir fordern immer wieder: Liebe Kommission, liebe Mitgliedstaaten, bitte macht klar und transparent, wo die Gelder hinfließen. Beispielsweise die Gelder des Europäischen Sozialfonds. Fließen sie beispielsweise in eine Einrichtung, die sich als inklusiv bezeichnet, aber dann doch nicht ist? Oder bekommt ein Ökohof, beispielsweise in Bayern, EU-Fördergelder für ökologische Landwirtschaft, der Leute aus einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung für sich arbeiten lässt? Es ist ja schön und gut, dass die Kühe glücklich und zufrieden auf der Wiese grasen, aber wenn dort gleichzeitig Menschen arbeiten, die keinen Mindestlohn bekommen und denen keine Arbeitnehmer*innenrechte zugestanden werden, dann haben wir ein Problem.
Zu fragen, wo die Gelder hinfließen und auf solche Probleme, wie gerade geschildert, hinzuweisen, gehört zu meiner Aufgabe als Parlamentarierin. Transparenz ist das Stichwort. Die gilt es herzustellen und darauf hinzuwirken, dass EU-Mittel eben nicht mehr für die Finanzierung von Parallelstrukturen genutzt werden, sondern für die Förderung inklusiver Modelle. Das passiert nicht über Nacht, sondern ist ein langer Prozess und auch dafür brauche ich Mehrheiten im Parlament.
Die extrem rechten Parteien im EU-Parlament sind nur zum Schein solidarisch mit behinderten Menschen. Eigentlich interessieren sie sich nicht wirklich für unsere Rechte.
In Deutschland und vielen anderen EU-Staaten sind rechtsextreme Parteien im Aufwind. Was würde ein Erstarken dieser Fraktion im EU-Parlament für Inklusion bedeuten?
Zunächst finde ich wichtig zu sagen: Es ist nicht gottgegeben, dass die ID-Fraktion, in der sich Politiker*innen aus Parteien wie der AfD, der italienischen Lega, der französischen Rassemblement National oder der österreichischen FPÖ zusammengeschlossen haben, gestärkt aus der Wahl am 9. Juni hervorgeht. Jede Stimme zählt und kann etwas ändern. Deshalb ist es so wichtig, zur Wahl zu gehen.
Das zweite, was ich betonen möchte, ist: Rechtsaußen- Parteien sind nur zum Schein solidarisch mit behinderten Menschen. Ich höre des Öfteren, das rechtsextreme Politiker*innen Menschen mit Behinderung mit dem Argument umgarnen: „Wenn wir die Flüchtlinge nicht hätten, dann würde es dir auch besser gehen.“ Wohin ein solches Gegeneinander-Ausspielen benachteiligter Gruppen führt, haben wir in der Vergangenheit in Deutschland bereits erlebt. Rechtsaußen-Parteien haben absolut kein Interesse an der Umsetzung der Rechte von behinderten Menschen. Und wenn sie heute gegen Geflüchtete hetzen, können wir uns sicher sein: Morgen geht es auch gegen uns Menschen mit Behinderung. Von daher werden Rechtsaußen niemals meine Verbündeten in der politischen Arbeit sein. Ich appelliere an alle Wähler*innen, in den Wahlprogrammen auf die Details zu achten. Da steht nicht zwingend drin: Wir wollen behinderte Menschen weghaben. Aber ich habe es in meiner Arbeit gemerkt: Die extrem rechten Parteien im EU-Parlament sind nur zum Schein solidarisch mit behinderten Menschen. Eigentlich interessieren sie sich nicht wirklich für unsere Rechte.