Barrierefrei wählen mit Behinderung
Wählen mit Assistenz
Anne Gersdorff wählt meist per Briefwahl und dabei mit Unterstützung einer Assistenz, die ihr beim Schreiben und Ankreuzen hilft. Für die Rollstuhlfahrerin würde eine digitale Wahlmöglichkeit mehr Barrierefreiheit bedeuten.
Die Stimmabgabe im Wahllokal vor Ort ist schwierig, selbst wenn es räumlich barrierefrei ist. Als sie bei einer der letzten Wahlen zusammen mit ihrer Assistenz zur Wahlkabine ging, wurde sie von der Wahlleiterin angehalten. „Sie sagte, dass das nicht ginge. Das widerspreche dem Wahlgeheimnis." Laut Gesetz ist die Wahl mithilfe einer Assistenz allerdings durchaus möglich (siehe verlinkte Checkliste unten). "Nach kurzer Diskussion und Erklärung, was Assistenz ist, ging es dann doch – ausnahmsweise“, erzählt Gersdorff.
Seit einigen Jahren wählt sie deshalb ausschließlich per Brief. „Natürlich sollte jeder Mensch die Wahl haben“, so Gersdorff, selbst zu entscheiden, ob Briefwahl oder Wahllokal.
Wählschablonen nur bedingt hilfreich
Seit einigen Jahren wählt Barbara Fickert per Briefwahl. Früher sei sie mit ihrem Partner zum Wahllokal gegangen, dieser sei mit ihr in die Kabine gegangen und habe ihr gezeigt, wo das Kreuz zu machen ist. Zu der Zeit kannten beide eine Person im Wahllokal, es gab nie Probleme mit dem Wahlvorgang. Bis ihr bei einer Europawahl im Wahllokal mitgeteilt wurde, dass dieser Wahlvorgang mit Unterstützung ihres Partners nicht mit dem Wahlgeheimnis vereinbar sei. Man habe Fickert stattdessen eine Wahlschablone gegeben, diese sei aber sehr groß gewesen. „Ich konnte mir mit der Schablone nicht sicher sein, ob ich das Richtige gewählt hatte“, sagt Fickert. Seitdem wähle sie per Briefwahl.
Das Risiko, mit der Wahlschablone das falsche Kreuz zu machen, ist Barbara Fickert zu groß. Stattdessen mache ihr Partner das Kreuz dort, wo sie es ihm sagt. Wenn es eine andere, bessere Möglichkeit gäbe, würde sie diese nutzen, so Fickert.
Besuch des Wahllokals als Zeichen politischer Teilhabe
Sowohl Gersdorff als auch Fickert betonen, dass der Gang zur Wahl für sie etwas Besonderes sei. Ins Wahllokal zu gehen, sei ein besonderes Ereignis in unserer Demokratie, zu dem jede und jeder die Möglichkeit haben sollte, sagen sie. “Für mich bedeutet der Zugang zum Wahllokal Teilhabe in der Gesellschaft“, so Gersdorff.
Wenn es zugänglich und barrierefrei ginge, würden beide das Wahllokal nutzen. Es sei ein Unding, dass man nicht mit Assistenz in der Wahlkabine wählen könne. Gersdorff war es unangenehm, eine Debatte über Assistenz mit der Wahlleiterin führen zu müssen. „Mir wurde der Eindruck vermittelt, Menschen mit Behinderung seien leichter beeinflussbar“, erinnert sich Gersdorff. „Für mich bedeutet es eine Art Entmündigung“, sagt Fickert.
Wählen und Wahlprogramme in Leichter Sprache
Natalie Dedreux nutzt die Briefwahl. Das gebe ihr die Möglichkeit, sich über die verschiedenen Parteien und Kandidat*innen zu informieren. Allerdings gebe es viele Informationen zu den Kandidat*innen nicht in Leichter Sprache, so Natalie Dedreux. Das stelle eine Barriere dar und erschwere die Entscheidung bei der Wahl. Sie habe deshalb bereits an alle Parteien geschrieben, ob ihre Wahlprogramme auch in Leichter Sprache verfügbar sind. Beim Wählen selbst nutzt sie Assistenz. „Weil ich nicht weiß, wie das mit dem Wahlzettel funktioniert, brauche ich dafür Assistenz“, so Dedreux. Zusätzlich nutze sie einen Übersetzer für Leichte Sprache, um zu verstehen, wie das mit der Wahl geht.Wie der Wahlzettel funktioniert, diese Informationen sollte es in Leichter Sprache geben, so Dedreux, damit Menschen mit Behinderungen den Wahlprozess verstehen könnten.
„Im Wahllokal war ich noch nicht drin. Und mir wurde jetzt erklärt, wie das funktioniert“, sagt Natalie Dedreux. Für sie sei die Briefwahl gut zu machen. „Aber ich habe hier auch ein Recht wie alle andern auch, in einem Wahllokal wählen gehen.“
Wählen ohne Barrieren
Andrea Schöne wählt, je nachdem, wo sie sich gerade befindet, entweder per Brief oder im Wahllokal. Bei der vergangenen Europawahl war sie gerade in Bologna zum Sprachkurs und wählte deshalb per Brief. „Das Wahllokal in meinem Wahlbezirk in Deutschland ist glücklicherweise für mich barrierefrei“, sagt die kleinwüchsige Journalistin. Schöne war sogar der Grund dafür. Denn das Wahllokal ist die Grundschule, in die sie im Jahr 2000 eingeschult wurde. Seitdem gibt es eine Rampe am Eingang.
Da viele Wahllokale gleichzeitig Schulen sind, sollte mehr darauf geachtet werden, dass barrierefreie Schulgebäude auch gleichzeitig barrierefreie Wahllokale sind, meint Schöne. „Das wäre ein sehr positiver Nebeneffekt. Denn es kann nicht sein, dass behinderte Menschen immer auf die Briefwahl zurückgreifen sollen, wenn das Wahllokal für sie nicht zugänglich ist.
Für mich ist das ein Zeichen dafür, dass Wähler*innen mit Behinderung gesellschaftlich und auch politisch nicht als wichtig genug erachtet werden.“ Für Andrea Schöne gehöre es zum demokratischen Prozess dazu, die Entscheidung, wo und wie man wählen wolle, selbst treffen zu können.