Das wir gewinnt

Partizipation fängt bei der Forschung an

Ein Mann mit Langstock und eine Frau gehen über eine Straße.
An der Studie "Inklusionsbarometer Mobilität" haben Menschen mit Beeinträchtigung als Ko-Forschende mitgearbeitet. Diese partizipative Methode transportiert den Inklusions-Gedanken in die Forschung, getreu dem Motto: Nichts über uns ohne uns. Wie es funktioniert und was die Beteiligten dazu sagen.
Das Inklusionsbarometer Mobilität zeigt, dass auch im Jahr 2022 vielen Menschen mit Beeinträchtigung in Deutschland die Teilhabe an Mobilität verwehrt bleibt. Das Problem der fehlenden Teilhabe erstreckt sich dabei nicht nur über die Fortbewegung an sich, sondern auch auf die Forschung über Mobilität. Sogar wenn es um Lösungswege zu mehr Teilhabe geht, wird ironischerweise meist über und für Menschen mit Teilhabeeinschränkung geforscht, nicht mit ihnen. 

Partizipatives Forschen ist partnerschaftliches Forschen

Partizipative Forschung ist keine Methode, sondern ein Forschungsstil. Sie ist ein Oberbegriff für alle Forschungsansätze, die soziale Wirklichkeit gemeinsam mit Menschen mit Teilhabeeinschränkung erforschen und beeinflussen. Im Rahmen partizipativer Forschung arbeiten Wissenschaftler*innen und Nichtwissenschaftler*innen also Hand in Hand, ehemalige Forschungszielgruppen werden zu Forschungspartner*innen. Neben dem Aspekt der Beteiligung zeichnet sich partizipative Forschung durch weitere Merkmale aus:

 

  • Empowerment: Alle Mitwirkenden gehen befähigt und ermächtigt aus der Zusammenarbeit hervor. Durch die Verschränkung unterschiedlicher Perspektiven durchlaufen sie Lernprozesse und entwickeln neue Fähigkeiten.
  • Doppelte Zielsetzung: Partizipative Forschung will den gesellschaftlichen Status quo nicht nur verstehen, sondern auch verändern. Wissen zu generieren, ist ihr wesentlicher Bestandteil, aber nicht ihr Hauptziel. Sie möchte Verständnis für die Lebenswirklichkeit von Menschen mit Beeinträchtigung entwickeln und strebt zugleich eine Verbesserung ihrer Situation an.
  • Dynamik: Das Vorgehen im Rahmen partizipativer Forschung wird immer wieder bewusst reflektiert und gegebenenfalls angepasst. Dadurch ist sie nicht vollständig planbar. Auch der Grad an Partizipation variiert.
  • Konflikte sind im Rahmen partizipativer Forschung normal und ein Ausdruck von Gleichberechtigung und Empowerment. Sie sprechen für die Qualität der Zusammenarbeit, da diese von niemandem dominiert wird. Die Beteiligten vertreten ihre Sichtweisen und setzen sich für ihre Interessen und Bedürfnisse ein. 

So gelingt der Einstieg in die Praxis

Um ein Forschungs-Projekt partizipativ zu gestalten, sollten genügend finanzielle, zeitliche sowie personelle Ressourcen vorhanden sein. Dabei gilt es, Menschen mit Beeinträchtigung von Anfang an einzubinden. Beim Studiendesign ist es wichtig, alle Methoden und Formate an die Bedarfe der Ko-Forscher*innen anzupassen, etwa hinsichtlich Barrierefreiheit oder der Nutzung Einfacher Sprache. Da die Gefahr besteht, dass die Wissenschaft die Kompetenzen der Nichtwissenschaft nicht gänzlich anerkennt und bevormundend agiert, ist es auch wichtig, bestimmte Formen des sozialen Umgangs zu etablieren. Tipps und Links zu weiterführenden Informationen über partizipative Forschung finden sich am Seitenende. 

Aha-Momente durch die Ko-Forscher*innen

Die zehn Ko-Forscher*innen des Inklusionsbarometers Mobilität wurden mithilfe einer Rekrutierungsagentur gewonnen. Sie haben psychische Beeinträchtigungen, Mobilitätsbeeinträchtigungen, Lernschwierigkeiten, chronische Erkrankungen oder Sinnesbeeinträchtigungen und waren in alle Schritte des Forschungsprozesses involviert: über die Konzeption des Fragebogens, die Bildung des Index bis hin zur Interpretation der Ergebnisse. 

Die Ko-Forscher*innen hatten viele gute Ideen und haben wichtige Impulse gegeben. Besonders bei der Interpretation der Ergebnisse gab es einige Aha-Momente, berichtet Lea Thönnes, Forschungsreferentin bei der Aktion Mensch. So bestand Verwunderung darüber, auf wie viele Barrieren Menschen mit psychischer Beeinträchtigung in ihrer Mobilität stoßen und dass sie oft nicht spontan reisen können. Die Ko-Forscher*innen weiteten den Blick: Für Menschen mit Panikattacken oder ADHS sind Menschenmengen, zu viele Reize oder ein hoher Geräuschpegel Gründe, nicht an Verkehrsknotenpunkte zu gehen und öffentliche Verkehrsmittel zu meiden.
Illustration einer mittelalten Frau mit kurzen blonden Haaren, rotem Oberteil und buntem Halstuch

Manchmal habe ich mir eine klarere Sprache gewünscht.

Jutta Schmitt, Ko-Forschende beim Inklusionsbarometer Mobilität

Ein digitales Partizipationsformat

Das Besondere an der Mitarbeit der Ko-Forscher*innen war, dass sie komplett digital erfolgte. Barrierefreiheit war insofern umgesetzt, dass es bei allen Terminen Verdolmetschung in Leichte Sprache, Gebärdensprache sowie Schriftverdolmetschung gab, egal ob diese in Anspruch genommen wurden oder nicht. Die Ko-Forscher*innen sollten die Angebote nach ihrem Bedarf spontan nutzen können, ohne sie vorher anfragen zu müssen. Das verwendete Programm erlaubte zudem die Nutzung eines Screenreaders.  

Die digitale Ausrichtung brachte jedoch auch Herausforderungen bei den Ko-Forschenden mit sich. Anfangs war es schwierig für mich, mit dem Computer umzugehen. Und je nach Programm in verschiedenen Masken zu arbeiten. Nach der dritten Sitzung war ich dann aber voll drin, berichtet die über 60-jährige Jutta Schmitt. Manchmal habe ich mir eine klarere Sprache gewünscht. Ich kam öfters im Gespräch nicht mit, weil viele englische Wörter und Fremdwörter benutzt wurden.
Illustration eines mittelalten weißen Mannes mit kurzen blonden Haaren, blauen Augen und Hoodie

Ich habe Blickwinkel eingenommen, über die ich zuvor noch nie nachgedacht hatte.

Andreas Potschka, Ko-Forschender beim Inklusionsbarometer Mobilität

Die Zusammenarbeit ist gelungen

Dennoch sind sich alle Beteiligten einig, dass es eine gelungene Zusammenarbeit war. So berichtet Matthias Tobies vom Meinungsforschungsinstitut Ipsos, das als Kooperationspartner die Studie durchgeführt hat: Ich fand beeindruckend, dass die Ko-Forscher*innen so engagiert waren. Beim Fragebogen war an einer Stelle nicht klar, ob man ihn mit Screenreader lesen konnte. Da hat sich sofort jemand gemeldet und gesagt, er würde ihn prüfen. Auch sonst waren die Ko-Forscher*innen sehr motiviert. Wir mussten ihr Tempo manchmal sogar drosseln.

Ko-Forscher Andreas Potschka hat viel Neues gelernt und die Arbeit an der Studie als bereichernd empfunden: Für mich war sie sehr spannend und horizonterweiternd. In den Gesprächsrunden habe ich andere Mobilitätsprobleme kennengelernt als meine eigenen. Ich habe Blickwinkel eingenommen, über die ich zuvor noch nie nachgedacht hatte – wie etwa den von Menschen im öffentlichen Nahverkehr, die nicht so gut lesen und schreiben können. 

Ein großes, vielfältiges Team ist arbeitsintensiv, führt aber dazu, mit weitem Blick zu forschen. Verschiedene Perspektiven auf die Forschungsfrage zu entwickeln und durch ihre Verschränkung zu Erkenntnissen zum Forschungsthema zu gelangen, ist ein wesentlicher Vorteil partizipativer Forschung. Lea Thönnes ist sehr zufrieden mit dem Verlauf des Projekts: Wir haben uns gegenseitig respektiert. Dennoch haben sich die Ko-Forscher*innen getraut, uns zu widersprechen, wenn sie Dinge anders gesehen haben. Genauso geht Inklusion: auf Augenhöhe.

Ausführliche Informationen zu partizipativer Forschung

Literatur

Weiterführende Links 

Kontakte

  • Dr. Vera Tillmann, Arbeitsgruppe „Partizipative Forschung und Forschungsmethoden“ des Aktionsbündnisses Teilhabeforschung
    tillmann@fi-bs.de
    02234/93 30 37 31 
  • Lea Thönnes, Referentin für Forschungsvorhaben der Aktion Mensch
    lea.thoennes@aktion-mensch.de
    0228/20 92-357
  • Dr. Hella von Unger, Professorin für Soziologie an der LMU München mit dem Schwerpunkt „Qualitative Methoden der empirischen Sozialforschung“
    unger@soziologie.uni-muenchen.de
    089/21 80-6315

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