Teilhaben lassen ist einfacher als viele denken
Interview mit Marie Lampe
Marie, wie war es für dich als Jugendliche? Wie gut hast du dich eingebunden gefühlt?
Dass Jugendliche mit Behinderung in der Studie doppelt so häufig angeben, sich einsam zu fühlen, wie Jugendliche ohne Behinderung, hat mich nicht überrascht, weil es mir tatsächlich auch so ging. Später habe ich gemerkt, dass das nicht nur mich betrifft und dass es vielleicht gar nicht meine Schuld ist. Ich wurde die ersten acht Jahre inklusiv beschult. Ich war in meiner Klasse das einzige Kind mit Behinderung. In den ersten vier Jahren ging es noch gut. Aber auf der weiterführenden Schule hatte ich große Schwierigkeiten, Anschluss zu finden und habe es eigentlich bis zuletzt nicht geschafft. Ich bin dann auf eine Schule für Blinde gewechselt, aber da lief es auch nicht perfekt. Zwar hatte ich zum ersten Mal das Gefühl: Hier gibt es Leute wie mich, von denen ich lernen kann. Dafür hatte ich wieder andere Probleme der Teilhabe. Es war einfach ein wahnsinnig abgegrenzter Bereich. Man hatte kaum Möglichkeiten, nach außen zu interagieren. Und im außerschulischen Bereich blieb das Problem, dass Angebote nicht zugänglich waren und es gar nicht erst versucht wurde, zu ermöglichen, wenn ich irgendwo mitmachen wollte, sondern abgelehnt wurde. Dadurch war die Freizeitgestaltung enorm schwer.
Jugendliche mit Behinderung haben dieselben Interessen und Freizeit
bedürfnisse wie Jugendliche ohne Behinderung.Wie kamst du in der Zeit auf der inklusiven Schule auf die Idee, dass deine mangelnde Eingebundenheit deine Schuld sein könnte?
Mir wurde vermittelt, dass ich einfach mehr auf andere zugehen und selbstbewusster werden muss. Einfach mehr dafür tun muss, um integriert zu werden oder Freunde zu finden. Ich habe es versucht, aber ich wusste auch nicht so richtig wie. Von meinen Mitschüler*innen wurde ich immer als anders wahrgenommen. Dabei haben Jugendliche mit Behinderung dieselben Interessen und Freizeitbedürfnisse wie Jugendliche ohne Behinderung. Das belegt auch die Studie eindeutig. Mir wurde aber immer per se unterstellt, dass ich aufgrund meiner Behinderung ganz andere Interessen hätte. Deshalb ist mir das nicht gelungen, in der Regelschule Fuß zu fassen.
Dabei hast du damals in einer Schüler*innen-Band deiner Schule gespielt, warst die Sängerin und hast die Texte geschrieben. Hat das nicht geholfen, in die Schulgemeinschaft reinzukommen?
Es hat mir geholfen dadurch eine Freizeitgestaltung zu haben und mit anderen etwas Gutes auf die Beine zu stellen. Aber es hat mir nicht geholfen, in die Schulgemeinschaft reinzukommen. Wir haben natürlich während der Proben und Auftritte viel Zeit miteinander verbracht, aber außerhalb des Band-Rahmens leider nicht.
Gab es andere Dinge, die dir einen Schub gegeben haben in Hinblick auf die Verbundenheit mit Gleichaltrigen?
Tatsächlich erst, als ich angefangen habe, zu studieren. Ich hatte damals große Hemmungen. Aber ich hab‘ mir gedacht: Du musst irgendwie in der neuen Stadt Anschluss finden. Ich bin dann einfach zu einer Erstsemester-Freizeit gegangen, bei der wir drei Tage lang weggefahren sind. Da gab es kein Netz und nichts und ich hatte wahnsinnig Angst davor. Aber ich hab's einfach gemacht. Das war das Beste was ich hätte tun können.
Plötzlich war ich einfach ein Teil der Gruppe und das war irgendwie total cool.
War das barrierefrei organisiert oder wurde vor Ort improvisiert?
Es wurde improvisiert. Ich habe bei der Anmeldung angegeben, dass ich blind bin aber allein klarkomme, nichts extra vorbereitet werden muss. Das wurde dann auch nicht gemacht und das fand ich gut. Plötzlich war ich einfach ein Teil der Gruppe und das war irgendwie total cool, weil ich so gut ins Studium starten konnte und Kontakte hatte in der neuen Stadt.
Nochmal zurück in die Schulzeit: Glaubst du, die Ausgrenzung fand eher deshalb statt, weil die anderen unsicher waren, wie sie mit dir umgehen sollten? Oder lag es eher daran, dass sie dachten, du kannst eh nicht mitmachen?
Beides. Ich glaube, dass sie es sich einfach alles wahnsinnig schwierig vorgestellt haben, beispielsweise zusammen wegzugehen. Wer kümmert sich dann um mich? Obwohl das ja gar nicht nötig gewesen wäre. Aber es wird dir als blinder Mensch erstmal unterstellt. So wird alles immer sehr, sehr kompliziert wahrgenommen. Komplizierter, als es letztendlich ist. Und gleichzeitig gab es auch die Annahme, ich sei anders, ich denke anders, ich habe andere Interessen oder könne irgendwas nicht gut genug.
Einige Ergebnisse aus der Studie
In der Studie haben viele Jugendliche mit Beeinträchtigung angegeben, dass sie wenig darin bestärkt werden, Dinge auszuprobieren. Gleichzeitig ist ihr Selbstvertrauen und ihr Erleben von Selbstwirksamkeit deutlich schlechter als bei Gleichaltrigen ohne Beeinträchtigung. Siehst du da einen Zusammenhang?
Ja. Aber ich habe es nicht in so starkem Maße erlebt, wie andere. Zum Glück waren meine Eltern in einer Elternvereinigung für Familien mit blinden Kindern. Früher sind wir sogar mit anderen Familien aus dem Kreis weggefahren. Dadurch konnten sich meine Eltern viel mit Eltern von älteren blinden Kindern darüber austauschen, wie deren Weg verlaufen ist, wie deren Teilhabemöglichkeiten sind und was alles geht. Das war für meine Entwicklung total gut, weil meine Eltern mich dadurch viel haben ausprobieren lassen. Aber es gab auch Dinge, die sie mir nicht erlaubt haben: Zum Beispiel allein ins Schwimmbad zu gehen.
Dabei verbindet es doch so, mit anderen Jugendlichen einen Nachmittag im Schwimmbad zu verbringen.
Genau. Bei mir kam vielleicht noch dazu, dass ich auf einem Dorf gewohnt habe, wo es nicht die Möglichkeit gab, mal allein mit dem Bus in die Stadt zu fahren. Ich glaube, das hätte ich gedurft. Es wäre für mein Selbstbewusstsein gut gewesen, zu merken, dass ich Wege allein bewältigen kann. Aber dadurch, dass wir eben sehr abgelegen gewohnt haben, musste ich ständig überall hingebracht werden. Meine Freundinnen haben mit 14 oder15 Jahren ihren Moped-Führerschein gemacht. Ich nicht. Unter anderem deswegen bin ich dann später auf eine Blindenschule gewechselt, weil die in der Stadt lag und ich dann im Internat gewohnt habe.
Inklusionsbarometer Jugend
Eine Studie zu ungleichen Teilhabechancen von jungen Menschen in Deutschland.
Herausgeber: Aktion Mensch.
Erscheinungsdatum 03. September 2024.
166 Seiten, 58 Abbildungen, circa 20 MB
Aus dem Inhalt:
- Teilhabe durch soziale Beziehungen
- Teilhabe am Alltagsleben
- Teilhabe durch Selbstbestimmung
- Teilhabe durch individuelle Entfaltung
- Teilhabe durch Nichtdiskriminierung
Worin, würdest du sagen, liegt der Wert dieser Studie, die die Aktion Mensch veröffentlicht hat?
Also erstmal in der sehr großen Anzahl der Befragten. Ich habe im Rahmen meines Studiums schon einige Studien zum Thema Teilhabe von Jugendlichen mit Behinderung gesehen, aber da war die Gruppe der Befragten wesentlich kleiner. Ich glaube, dass diese Studie dabei helfen wird, Angebote für Jugendliche noch mal besser weiterzuentwickeln, beziehungsweise deutlicher zu machen, dass sie auch die Teilhabe von Jugendlichen mit Behinderung ermöglichen müssen.
Wo würdest du den Hebel ansetzen, um die Teilhabechancen von Jugendlichen mit Beeinträchtigung zu verbessern? Fällt dir spontan etwas ein, was dringend verändert werden müsste?
Die Teilnehmenden der Studie mit Beeinträchtigung haben ja überwiegend angegeben, dass sie sich vom Zugang zu den sozialen Medien nicht ausgeschlossen fühlen. Trotzdem glaube ich, dass Vereine oder auch Medien, die sich speziell an Jugendliche wenden, noch stärker darauf achten müssen, dass ihre Angebote wirklich barrierefrei sind. Denn dann können sie von allen gleichermaßen konsumiert werden und auch Jugendliche mit Sinnesbeeinträchtigungen wissen, worüber in der Schule gesprochen wird und können mitreden.
Gleichzeitig ist mir nochmal die Situation von jungen Menschen mit kognitiver oder psychischer Beeinträchtigung bewusst geworden. Die werden noch viel zu selten mitgedacht. Auch bei Angeboten, die sich eigentlich an Jugendliche mit Behinderungen richten, liegt der Fokus noch sehr stark auf jungen Menschen mit körperlichen und Sinnesbeeinträchtigungen. Was Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung brauchen, wird zu wenig gesehen.
Und dann müsste auch Intersektionalität stärker berücksichtigt werden. Es gibt eben auch Jugendliche mit Beeinträchtigung, die queer sind. Dementsprechend müssen auch Angebote für queere Jugendliche barrierefrei sein. Das gleiche gilt für Jugendliche mit Migrationsgeschichte oder geringerem Bildungshintergrund. Meiner Meinung nach müssten außerdem Angebote der offenen Kinder- und Jugendarbeit oder auch für politische Bildung gezielt Jugendliche mit Beeinträchtigung ansprechen, beispielsweise in den Schulen.
Marie Lampes Tipps
Jugendlichen, die sich einsam oder diskriminiert fühlen rät Marie:
- Vernetzt euch und sucht euch Vorbilder.
- Probiert Dinge aus.
- Ihr habt das Recht, teilzuhaben. Fordert es ein.
Mit etwas Abstand zu deiner Schulzeit: Was würdest du jungen Menschen raten, die sich diskriminiert, einsam und ängstlich fühlen?
Erstens: vernetzt euch. Schaut, dass ihr Vorbilder findet; vielleicht ältere Personen, mit der gleichen Behinderung, die in der Öffentlichkeit stehen, die über ihr Leben berichten und euch zeigen, dass ihr mit der Behinderung nicht allein seid.Ich hatte zum Beispiel, als ich etwa 12 oder 13 Jahre alt war, große Hemmungen, zu anderen blinden Menschen Kontakt aufzunehmen. Irgendwie wollte ich nicht wahrhaben, dass ich mit einer Behinderung lebe. Als ich das erste Mal online auf eine Person gestoßen bin, die blind ist und in der Öffentlichkeit steht, war das ein totaler Wow-Moment für mich. Danach habe ich viel mehr versucht, mich mit anderen jungen blinden Menschen zu vernetzen. Mir hat total geholfen zu merken, dass es nicht meine Schuld ist, dass ich Diskriminierung erlebe. Es geht anderen Menschen genauso. Und man kann trotzdem später ein cooles Leben führen.
Mein zweiter Rat lautet: Lasst euch nicht entmutigen, auch wenn es platt klingt. Geht immer weiter zu Angeboten, die ihr wahrnehmen möchtet und steht für euer Recht ein, teilzuhaben. Und wenn Menschen sagen:
Du kannst das nicht, und wir trauen uns das nicht zu, dann denkt nicht:
Ach so, ja, stimmt, kann ich nicht, sondern zu sagen:
Nein, wir probieren das jetzt aus.Und wenn sich am Ende dann rausstellt, dass es doch nicht geht, dann habt ihr was gelernt. Aber vielleicht lernt ihr ja auch: Es funktioniert.
Marie Lampe
Marie Lampe ist aufgewachsen in Stemwede bei Osnabrück. Aktuell studiert sie in Berlin Soziale Arbeit. Nebenbei ist sie Mitglied im Vorstand des Vereins Sozialhelden e. V. Die 25-Jährige ist stellvertretende Bundesjugendsprecherin des deutschen Blinden- und Sehbehinderten-Verbands. In dieser Rolle bemüht sie sich besonders um die Vernetzung von jungen Menschen mit Sehbehinderung in Deutschland.