Das wir gewinnt
Ein junger Mann in einem Elektrorollstuhl sitzt hinter einem Lehrerpult in einem Klassenzimmer. Hinter ihm seind eine große Landkarte und die Tafel zu sehen.

Barrierefreiheit, Aufklärung, Empowerment: drei Wege zu mehr Teilhabe

In ihrer ersten vergleichenden Jugendstudie hat die Aktion Mensch junge Menschen mit und ohne Beeinträchtigung zwischen 14 und 27 Jahren gefragt, wie gut sie sich als Teil der Gesellschaft  und speziell ihrer Altersgruppe fühlen. Über seine Jugend-Erlebnisse haben wir mit Gramoz Krasniqi gesprochen. Er ist Sozialarbeiter an einer Schule und nutzt einen Elektrorollstuhl.

Interview mit Gramoz Krasniqi

Wie realistisch kommt dir das Bild vor, dass das Inklusionsbarometer Jugend zeichnet?

Die Ergebnisse der Studie decken sich tatsächlich mit vielen Erfahrungen, die ich im persönlichen Bereich oder auch im Austausch mit anderen Menschen mit Beeinträchtigungen gesammelt habe.

Du hast also in deiner eigenen Jugend vieles von dem, was in der Studie erwähnt wird, selbst so erlebt?

Anfangs auf jeden Fall. Wobei ich tatsächlich das Glück hatte, dass mir meine Eltern viel Selbstbewusstsein verliehen haben und ich auch generell ein extrovertierter Typ bin, der nicht viel Anlaufzeit benötigt, um mit Menschen ohne Behinderung in Kontakt zu kommen.

Einige Ergebnisse aus der Studie

24%
Rund ein Viertel der jungen Menschen mit Beeinträchtigung geben an, dass Barrieren sie an mindestens einer Freizeitaktivität hindern. 
44%
Fast die Hälfte der jungen Menschen mit Beeinträchtigung geben an, in der Schule von Mitschüler*innen oder Lehrkräften gemobbt worden zu sein.
85%
Ein Großteil der Jugendlichen mit Beeinträchtigung gibt an, bereits diskriminiert worden zu sein.
50%
Die Hälfte der jungen Menschen mit Beeinträchtigung glaubt, dass andere in ihrem Alter viel mehr können als sie selbst.
29%
Fast ein Drittel der jungen Menschen mit Beeinträchtigung hat kaum Möglichkeiten jemanden für eine feste Beziehung zu finden.

Was war für dich als Jugendlicher das größte Problem in Hinblick auf Teilhabe?

Dass du verinnerlichen musstest, dass du mehr Nerven brauchst, dass du immer diese Umwege gehen wirst, wenn du irgendwo hingehst, dass du immer anders planen musst als andere. Das Bitterste war natürlich, wenn du auf einer Party eingeladen warst aber nicht hingehen konntest, weil da zum x-ten Mal 3 Treppen sind, die du nicht alleine überwinden kannst.

Hast du auch Diskriminierung erfahren?

Im Grundschulalter und auch noch am Anfang der weiterführenden Schule waren es eher plumpe Diskriminierungen: Jemand war frech zu dir, läuft weg, stellt sich demonstrativ auf die zweite Treppenstufe und sagt: Hier kommst du nicht hoch. Oder auch einfach dieses unbewusste Diskriminieren, wenn alle Fußball spielen und gar nicht drüber nachdenken, dass du kein Fußball spielen kannst.

Und später?

Sowohl in der Grundschule als auch auf meiner ersten weiterführenden Schule war ich in meinen Inklusionsklassen jeweils der einzige Schüler mit Beeinträchtigung. Danach bin ich in Köln auf eine inklusive Förderschule gegangen. Das heißt, ich habe Inklusion von beiden Seiten erlebt - zuerst als Einziger mit Beeinträchtigung in der Klasse und danach dann als einer von vielen. Und ich muss tatsächlich sagen: Nirgendwo war das Mobbing so groß wie auf der Schule, wo ich eben nicht der einzige Schüler mit Behinderung war.

Kannst du dir erklären, woran es vielleicht gelegen haben könnte?

Ich glaube, das hat mit negativen Erfahrungen der jungen Menschen mit Behinderung zu tun. Viele nehmen sich im Vergleich zu jungen Menschen ohne Behinderung als defizitär war. Und wenn sie dann in einer weiterführenden Schule auf viele andere Schüler*innen mit Behinderung treffen, haben sie das Gefühl, dass sie jetzt Macht haben könnten. Und deswegen fangen sie an, Beeinträchtigungen gegeneinander aufzuwiegen. Da habe ich Sätze gehört wie: Wenigstens kann ich ein bisschen laufen und du kannst nicht laufen. Oder jemand ohne Arme wurde mal in die Toilette gesperrt, von den Rollstuhlfahrern wohlgemerkt. Das war sehr hart für mich, das zu erleben. Später habe ich mich dem entgegengestellt, weil ich es lächerlich fand. Ich war damals schon der Meinung, dass Menschen mit Beeinträchtigung mehr zusammenhalten müssen. Das ist auch ein Stück weit der Grund, warum ich mich für Teilhabe einsetze, weil ich der Meinung bin, dass Menschen mit Beeinträchtigung, die die kommunikativen Möglichkeiten dazu haben, auch ein Stück weit vorangehen müssen. 

Wie sollen sie das tun?

Die Partizipation in allen Gesellschaftsbereichen vorantreiben, Aufklärung betreiben. Nicht nur für Menschen ohne Beeinträchtigung, sondern auch für Menschen mit Beeinträchtigung, die ein bisschen blauäugig durchs Leben gehen oder die sich selbst und ihr Leben zu sehr defizitär betrachten. 

Was die Teilhabe in der Freizeitgestaltung angeht, erleben wir tagtäglich das, was die Teilnehmer*innen der Studie berichten.

Gramoz Krasniqi

Gab es Ergebnisse in der Studie, die dich besonders beeindruckt haben?

Die Studie spiegelt genau das wider, worüber wir uns im Freundeskreis ständig unterhalten und was bei uns allgegenwärtig ist. Besonders das Ergebnis, dass junge Menschen mit Beeinträchtigung offenbar deutlich schwerer Freunde und insbesondere einen Partner oder eine Partnerin finden. Ich erlebe es selbst und weiß auch aus Gesprächen mit anderen Menschen mit Beeinträchtigung. Das schwarz auf weiß bestätigt zu sehen, ist traurig. Gerade wenn es um Beziehungen geht, in der eine Person eine Behinderung hat und die andere nicht, höre ich ganz oft, dass diejenigen mit Behinderung Angst davor haben, eine Belastung für den Mensch ohne Beeinträchtigung zu sein. Oder dass sie Zweifel haben, ob sie später mal Kinder bekommen können, weil sie sich fragen, ob sie sich gut genug um sie kümmern könnten. Auch was die Teilhabe in der Freizeitgestaltung angeht, erleben wir tagtäglich das, was die Teilnehmer*innen der Studie berichten.

Inklusionsbarometer Jugend

Eine Studie zu ungleichen Teilhabechancen von jungen Menschen in Deutschland.
Herausgeber: Aktion Mensch.
Erscheinungsdatum 03. September 2024.
166 Seiten, 58 Abbildungen, circa 20 MB

Aus dem Inhalt:

  • Teilhabe durch soziale Beziehungen
  • Teilhabe am Alltagsleben 
  • Teilhabe durch Selbstbestimmung
  • Teilhabe durch individuelle Entfaltung
  • Teilhabe durch Nichtdiskriminierung
Titelseite der Studie "Inklusionsbarometer Jugend". Auf der oberen Hälfte der Seite ist das Foto einer diversen Gruppe von jungen Menschen zu sehen, die gemeinsam vor einer mit Graffiti besprühten Gebäudemauer abhängen. Darunter steht der Name der Studie.

Du bist Sozialarbeiter an einer Schule. Wie, würdest du sagen, kann es besser gelingen, dass Jugendliche mit und ohne Beeinträchtigung in Kontakt kommen und sich Freundschaften bilden?

Es kommt, wie gesagt, sehr auf die Persönlichkeit des Menschen mit Beeinträchtigung an. Deshalb bin ich der Meinung, dass es gerade an inklusiven Schulen, die einen größeren Anteil von jungen Menschen mit Beeinträchtigung haben, die Aufgabe der Fachkräfte ist, hinzugehen und die Jugendlichen mit Beeinträchtigung zu stärken, zum Beispiel in der Kommunikation mit Menschen ohne Beeinträchtigung. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass man als Schüler*in zwar akademisch weiterentwickelt wird, aber nicht genug in der Persönlichkeitsstärkung. Wenn man immer durchs Leben geht und sich mit der eigenen Einschränkung als defizitär wahrnimmt, dann ist es natürlich schwieriger, Freunde zu finden. Es gibt zwei Typen von Menschen mit Beeinträchtigung: Die, die damit umzugehen lernen, und die, die ihre Persönlichkeit auf die Beeinträchtigung zentrieren und das Leben dann dementsprechend pessimistischer sehen. Und was soll denn ein Mensch ohne Beeinträchtigung machen, wenn du selbst Probleme mit deiner Beeinträchtigung hast, außer für dich da zu sein? Nach dem zehnten Mal Jammern will er oder sie es dann auch nicht mehr hören.

Was versuchst du Kindern mit Beeinträchtigung, die zu dir kommen, mitzugeben auf den Weg?

Sie sollen ungeachtet ihrer Beeinträchtigung offen auf Menschen zugehen und ganz transparent mit ihrer Einschränkung umgehen. Dafür brauchst du ein Verständnis und eine Akzeptanz der eigenen Einschränkung. Das fängt aber schon in der Arbeit mit den Eltern an. Ganz oft gibt es Eltern, die sagen: Mein Kind ist nicht, beispielsweise, lernbeeinträchtigt. Dann sitzen wir da, lesen die Diagnostik und denken uns: Doch, das ist leider so. Und irgendwann müssen wir den Schüler*innen halt auch sagen, dass es so ist. Eben damit sie lernen, mit ihrer Beeinträchtigung umzugehen und zu verstehen, wo ihre Grenzen sind. Aber wir müssen ihnen auch vermitteln, dass wir in einem Land und in einer Zeit leben, wo Diversität gerade gefragter denn je ist und wo man ganz transparent mit seinen individuellen Problematiken umgehen kann. Ich versuche den Jugendlichen mitzugeben: Hey, du hast diese Einschränkung, aber es gibt diese und jene Möglichkeiten. Oder: Darin bist du super. Dies und das kannst du gut. Diese Ressourcenorientierung versuche ich ihnen mitzugeben. Das Defizit gar nicht in den Vordergrund zu stellen. Es gar nicht als Defizit zu betrachten, sozusagen.

Welche Maßnahmen wären deiner Meinung nach am besten geeignet und am dringendsten, um in Hinblick auf Teilhabe Verbesserungen zu bringen?

Natürlich fängt das bei infrastrukturellen Maßnahmen an. Ich fordere immer wieder, dass Neubauten barrierefrei sein müssen. Das ist einfach so. Ich verstehe zwar das Argument der Kommunen, die sagen, dass es schwierig ist, Zuschüsse für den barrierefreien Umbau alter Gebäude zu bekommen. Aber Neubauten müssen barrierefrei werden. Genauso wie der ÖPNV. Einfach, damit die Zugänglichkeit zu Freizeitaktivitäten und damit auch der Zugang zu Jugendlichen ohne Beeinträchtigung besser möglich wird. Sonst bleibt es immer so, dass Jugendliche mit Beeinträchtigung in Einrichtungen für Jugendliche mit Beeinträchtigung gesteckt werden, mit dem Argument: Da fühlst du dich ja wohler, da ist auch alles barrierefrei. Diese Barrieren müssen abgebaut werden, das ist auf jeden Fall der erste Schritt. Der zweite Schritt ist, dass man Jugendliche mit Beeinträchtigungen besser in ihrer Persönlichkeitsentwicklung unterstützt. Man könnte mehr Seminare dazu anbieten oder an Inklusionsschulen gezielt Ich-Stärkung betreiben.

Teilhabe heißt auch Partizipation und Mitwirkung. Man kann Teilhabe nur fordern, wenn man selbst auch bereit ist, teilzunehmen.

Gramoz Krasniqi

Also im klassischen Sinn Empowerment schon im Jugendalter.

Genau. Ich stärke die Jugendlichen, indem ich mit ihnen von innen heraus die Barrieren abbaue. Aber du musst halt ganz, ganz früh damit anfangen. Man muss auch die Eltern von jungen Menschen mit Beeinträchtigung stärker einbinden. Denn ganz oft werden die alleingelassen. Vor lauter Bürokratiewust wissen die gar nicht, wo sie welche Hilfen für ihr Kind bekommen können. Viele Kids, die ich betreue, haben Eltern, die nicht gut genug Deutsch sprechen. Denen muss man die Teilhabemöglichkeiten entweder in einfacher Sprache erklären, oder man nimmt einen Dolmetscher mit, damit sie verstehen, in was für einem tollen Land mit wie vielen Möglichkeiten sie leben. Denn wenn die Hilfsangebote nicht bekannt sind, dann werden sie auch nicht in Anspruch genommen. Ein anderer Punkt ist aber auch, dass, wenn Familien die Hilfsangebote nicht annehmen möchten, und das erleb ich in meiner Arbeit leider auch, dann muss man ganz klar sagen: Teilhabe heißt auch Partizipation und Mitwirkung. Man kann Teilhabe nur dann fordern, wenn man selbst auch bereit ist, teilzunehmen.

Ein junger Mann im Elektrorollstuhl auf einem Outdoor-Basketball-Platz.

Gramoz Krasniqi

Gramoz Krasniqi, 28, lebt in Düsseldorf und arbeitet als Sozialarbeiter an einer inklusiven Realschule. In seiner Freizeit rappt er unter dem Namen „Rolling G“. 2023 nahm er zusammen mit Eko Fresh und Onita Boone für die Aktion Mensch den Song „Neue Wege“ auf.

Video über Gramoz Krasniqi
Gramoz Krasniqi alias Rolling G rappt mit Eko Fresh

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