Schubladen-Party
Freitag, Berlin-Schöneberg: Bei Bekannten von Bekannten
Die nächste Station ist meine. Ich zwänge mich mit der Menschenmasse auf die Straße. Vorbei an den Spießern, den Schnorrern, Tussis, Ökos und Prolls, den Punks, Workaholics und Freaks. Automatisch scanne ich meine Umgebung, schiebe die Leute in Schubladen. Aber was bringen mir die eigentlich? Orientierung? Und kann ich die Sortiererei auch mal bleiben lassen? Heute Abend probiere ich das aus.
Mein Platz ist erstmal im Flur, irgendwo zwischen Türrahmen und Unbehagen - auf einer Party, wo mich kein Schwein kennt. Schnell ein Glas in die Hand, dann Unsicherheit weglächeln, schlendern, umsehen. Warum hängen eigentlich in jeder WG die gleichen IKEA-Lampen und Poster? Und was haben die für Klamotten an? Gähn. Willst du ein erfolgreicher Miesepeter sein, so vergleiche dein Leben mit dem der anderen. Ich wische auf meinem Telefon herum und sondiere aus den Augenwinkeln das Feld. Das Hippiemädchen in der Ballonhose ist so braun gebrannt, weil sie frisch aus Goa zurück ist. Indien, klaro. Die Asien-Traveller-Traube verstopft den Flur. "Ich war mit dem Moped in Vietnam.“ "Da sind alle Menschen freundlich.“ "Schrecklich, diese Touris.“ "Briten, Amis und Deutsche erkennt man ja immer auf Anhieb.“ Und schon ist die erste Schublade offen.
Bevor wir mit einem Menschen überhaupt ein Wort gewechselt haben, ist er bereits als richtig oder falsch, normal oder unnormal eingestuft. Genau das mache ich gerade.
Ich entscheide mich für das Mädchen in den Rockabilly-Klamotten. Eine Freundin von einer Freundin? Ich gehe auf Nummer sicher und sehe bei Facebook nach. Ich kenne sie vom Festival letzten Sommer, das Bändchen trägt sie immer noch am Handgelenk. Darunter ein tätowiertes Quadrat. Superunangepasst und hip, bisschen überdreht. Aber vielleicht trete ich langsam mal meine Vorurteile in die Tonne.
Auf "Was machst du so?“ antwortet das Rockabilly-Mädchen nur mit der Kombination ihrer Studienfächer. Rückfragen gibt es keine, nach ein paar lahmen Minuten macht sie sich aus dem Staub. Boah, ist die öde. Oder bin ich's? Und wenn schon. Die könnte vielleicht auch mal ihre Vorurteile mir gegenüber zurückhalten. Ich bin ziemlich enttäuscht. Davon, dass ich nicht augenblicklich mit offenen Armen empfangen werde, wenn ich mir mal Mühe gebe. Ecke ich mit Leuten an, werde ich schnell unfair. Alle Lehrer sind gemein, alle Autofahrer bescheuert. Das Maß meiner Vorurteile bin ich selbst, Schuld haben die anderen. Ich gebe auf. Reicht für heute. Morgen ein neuer Versuch.
Samstag, Berlin-Friedrichshain: Geburtstag von Facebookfreunden
Geduscht, top motiviert – und heute Abend sowas von schubladenfrei! Rede ich mir jedenfalls ein, als ich am Eingang ein gelangweiltes Hipster-Pärchen scanne. Im Wohnzimmer Youtube-Disco, 90er-Hits natürlich. Die Tanzenden: Kulturwissenschaftler, Schauspieler, Musiker, so die Richtung. Sie beobachten die Leute um sich herum, nicken sich wissend zu und kichern. Da traue ich mich nicht ran. Außerdem trägt die eine weder Rock noch Hose über ihrer Strumpfhose und ich bin zwar weder prüde, noch habe ich Ahnung von Mode, aber... muss das so?
Unten auf der Straße verrate ich den beiden, dass ich heute mit Vorsatz auf der Party war. Ich wollte mich mit meinen Vorurteilen auseinander setzen, sage ich. Ja, ich hätte am Anfang tatsächlich etwas aufgesetzt gewirkt. Abgehoben. Großmäulig. Anscheinend wirke ich merkwürdig, wenn ich mich von meinen Schubladen frei machen will. Das Handy vibriert, eine Freundin schreibt. "Atzenalarm!“, steht da. "Ich bin von Stehkragen und Effektsträhnchen umzingelt. Rette mich!“ Meine Vorurteile sind schon wieder auf neuer Mission. Ich trete in die Pedale.
Text: Philipp Brandstädter
Illustrationen: Robert Matzke