"Perspektive wechseln: Was will die Kommune?"

 
Ulrike Schloo und Jessica Bleifuß, Netzwerk-Koordinatorinnen bei Kommune Inklusiv Schneverdingen, sprechen im März 2023 darüber, wie sie die Verstetigung in ihrer Modellkommune geschafft haben.

Wie haben Sie es geschafft, die Erfolge von Kommune Inklusiv in Schneverdingen zu verstetigen? Was war vor allem wichtig?

Ulrike Schloo: Wir haben rechtzeitig darüber nachgedacht, welche Projekte wir fest verankern wollen. Es ging uns dabei nicht nur um die Personalstelle, die wir erhalten wollten. Sondern auch um Projekte wie die Freiwilligenagentur und das niederschwellige inklusive Raum-Angebot Freiraum. Bei der Freiwilligenagentur haben wir von Beginn an geplant, dass sie eine andere Trägerschaft bekommt: Also dass nicht wir als Kommune Inklusiv-Netzwerkkoordination sie hauptverantwortlich führen, sondern dass wir ein Konzept für eine externe Trägerschaft entwickeln. Die Steuerungsgruppe hat dann das Mehrgenerationenhaus Schneverdingen als Träger gewählt. Und der „Freiraum“ wird nun unter anderem von der Freiwilligenagentur genutzt.

Jessica Bleifuß: Dass wir das Thema Verstetigung frühzeitig auf die Agenda genommen haben, liegt auch daran, dass die Projektverantwortlichen von Aktion Mensch und die Prozessbegleitung immer wieder gesagt haben: „Kümmert euch rechtzeitig! Es wird nicht funktionieren, wenn ihr erst im letzten halben Jahr damit anfangt.“ Also haben wir wirklich zwei Jahre vor Ende der Förderung gesagt: Okay, klären wir mal in der Steuerungsgruppe und mit der Stadt, welche Bereiche wir auf lange Sicht hin anpacken und erhalten wollen. Obwohl wir zu dem Zeitpunkt eigentlich nicht davon überzeugt waren, dass das bereits nötig ist.

Welche Bereiche haben Sie ausgewählt für die Verstetigung?

Jessica Bleifuß: Ein Thema war das hauptamtliche Personal, das sich auch nach Ende von Kommune Inklusiv weiter um das Thema Inklusion kümmern soll. Außerdem haben wir darüber nachgedacht, wie Arbeitsgruppen und die Steuerungsgruppe weiterarbeiten können. Wir legten die Themen fest, um die wir uns nach und nach kümmern wollten. An den Themen arbeiteten wir zunächst in kleineren Gruppen, stellten die Ergebnisse der Steuerungsgruppe vor und diskutierten sie dort in großer Runde. Auf diese Weise entstanden verschiedene Vorschläge: Entwürfe, die beschreiben, wie der nachhaltige Stadtentwicklungsprozess „Cittaslow“ und Kommune Inklusiv miteinander verknüpft werden können, wie sich beispielsweise die Arbeitsgruppen aus beiden Prozessen verbinden lassen. Außerdem gab es Ideen, wie das Nachfolge-Gremium für die Steuerungsgruppe aussehen könnte und wie eine Stelle für Teilhabe ausgestaltet sein müsste.

Wie sind Sie vorgegangen beim Entwickeln dieser Vorschläge?

Jessica Bleifuß: Das war tatsächlich ein zäher Punkt am Anfang: Weil wir gefühlt immer mit Forderungen um die Ecke kamen gegenüber der Stadt. Zum Beispiel mit der Forderung: Wir brauchen auf jeden Fall Hauptamt, um dieses Netzwerk weiter zu erhalten! Wir merkten irgendwann: Forderungen zu stellen ist nicht der richtige Zugang. Dann sagte unser Geschäftsführer Gerhard Suder von der Lebenshilfe Soltau: „Macht doch mal eine Übersicht über die Aufgaben, die ihr übernehmt und die eine Stelle für Teilhabe erfüllen müsste.“ Das war ein goldener Tipp. Wir haben diese Auflistung gemacht: Welche Aufgaben übernehmen wir eigentlich für die Stadt? Welche Effekte hat das? Und dann schauten wir, welche von diesen Aufgaben wir erhalten möchten. Das war der Moment, in dem die Diskussion richtig in Schwung kam, innerhalb der Steuerungsgruppe und mit der Stadtverwaltung.

Ulrike Schloo: Das kann natürlich nur funktionieren, wenn die Stadt das Vorhaben als gut und erfolgreich ansieht. Ich glaube, wenn wir früher angefangen hätten, an unserer Verstetigungs-Strategie zu arbeiten, hätten wir keine Chance gehabt. Die lange Laufzeit von Kommune Inklusiv ist auch etwas, was das ganze Vorhaben erfolgreich macht: So hatten wir wirklich die Chance, Erfolge in der breiten Fläche sichtbar zu machen.

Auf welche Weise?

Ulrike Schloo: Wir haben zum Beispiel im Sommer 2021 eine Podcastreihe gemacht. Im Herbst standen in Niedersachsen Kommunalwahlen an. Wir überlegten uns, dass es auch im Hinblick auf die Verstetigungs-Debatte gut wäre, wenn wir uns mit der Politik noch besser vernetzen. Und uns gegenseitig informieren: Wofür stehen wir, wofür sind wir zuständig? Und wofür stehen die Politiker*innen, was haben sie sich vorgenommen? Wir überlegten uns einen Fragenkatalog und schrieben die Fraktionen an, die im Stadtrat vertreten waren. Anschließend machten wir fünf Interviews für den Podcast. Das war sehr intensiv und führte dazu, dass die Kommunal-Vertreter*innen sich stark mit dem Thema Inklusion auseinandersetzten. Es war hier im Wahlkampf viel präsenter als bei den vorangegangenen Kommunalwahlen: Auf den Plakaten war plötzlich zu sehen, welche Barrieren die Politiker*innen abschaffen wollen und weshalb. Wir veröffentlichten die Fragebögen auch auf unserer Webseite: So konnten die Kommunal-Vertreter*innen darstellen, was sie tun wollen in den Bereichen Barrierefreiheit und Mobilität, Partizipation, Ehrenamt, Familie und Bildung.

Jessica Bleifuß: Die Podcast-Interviews waren supergut, um in den Austausch zu kommen. In Vorbereitung auf den Podcast, also bevor die Aufzeichnung anfing, waren wir ja schon im Gespräch. Und am Ende der Aufzeichnung ebenfalls. Da kamen ganz viele interessierte Nachfragen. Das hat uns näher zusammengebracht. Diese tollen und intensiven Gespräche waren für den Verstetigungs-Erfolg ziemlich wichtig, obwohl wir das in der Form gar nicht geplant hatten. Als es darum ging, dass die Stelle für Teilhabe als Posten im städtischen Haushalt eingeplant wird, besuchten wir die Parteien ein weiteres Mal. Wir merkten, dass ganz viel geblieben war von den Gesprächen. Dass das Thema Inklusion mehr ins Bewusstsein gerückt war.

Drei Menschen im Raatssaal von Schneverdingen
Mitglieder der Steuerungsgruppe von Kommune Inklusiv Schneverdingen bei der Arbeit

Schneverdingen ist die kleinste der Kommune Inklusiv-Modellkommunen. Hat das bei der Verstetigung geholfen?

Ulrike Schloo: Wir haben hier schon einige Bedingungen, die größere Städte nicht haben. Die Wege in Schneverdingen sind kurz, man kennt sich. Dadurch sind Verwaltung und Politik in unserer Steuerungsgruppe wirklich engagiert. Außerdem sind Menschen aus den Zielgruppen in unserer Steuerungsgruppe aktiv dabei. Das ermöglicht einen Austausch zwischen Verwaltung, Politik und Menschen aus den Zielgruppen, der sonst nicht einfach so passiert.

Jessica Bleifuß: Wir haben tolle Fürsprecher*innen. Eine Bürgermeisterin, die hinter dem Projekt steht – das ist wichtig. Außerdem ist unser aktueller Steuerungsgruppen-Vorsitzender Rolf Weinreich als Lokalpolitiker unglaublich gut vernetzt, er kennt quasi jeden vor Ort. Auch das ist super wertvoll. Er hat sich schon einiges getraut und mutige Forderungen gestellt. Für den politischen Prozess ist er unser Mentor. Er lotst uns durch den Prozess, erklärt uns, worauf wir achten sollten. Alles in allem haben wir hier viele Menschen in entscheidenden Positionen, die ihr Engagement für Inklusion ernst nehmen.

Ulrike Schloo: Die Menschen hier sind auf jeden Fall sehr ehrlich und praxisorientiert. Sie krempeln die Ärmel hoch und überlegen: Was können wir schaffen und bis wann? Und wenn jemand sagt, dass er oder sie etwas erledigt, dann wird das auch erledigt.

Was nehmen Sie als persönliche Erfahrung aus dem Verstetigungs-Prozess mit?

Ulrike Schloo: Dass es wichtig ist, auch mal die Perspektive zu wechseln und nicht nur durch die eigene Brille zu gucken. Sondern zu fragen: Was will denn eine Kommune? Was ist Politikerinnen und Politikern wichtig? Worin sehen sie einen Mehrwert, wenn sie sich mit uns treffen und mit uns zusammenarbeiten?

Jessica Bleifuß: Was ich wirklich toll finde: Dass wir mit der Steuerungsgruppe zu einem Team geworden sind. Es ist das Gefühl entstanden: Wir wollen und können gemeinsam etwas erreichen, wir sind stark zusammen. Dieses Wir-Gefühl ist so wichtig und trägt die Gruppe, auch wenn der Prozess mal zäh läuft. Die Steuerungsgruppe ist über den Prozess auch immer selbstbewusster geworden. Alle haben erfahren, dass jede und jeder eine gleichwertige Stimme hat und Bedürfnisse klar formulieren kann.