"Es geht um Vertrauen auf beiden Seiten"

Der Inklusions-Aktivist, SPD-Kreistagsabgeordnete und Landtagsabgeordnete Constantin Grosch spricht über seine Vermittlungsrolle zwischen Politik, Verwaltung und Initiativen – und darüber, mit welcher Haltung Aktivist*innen ihr Ziel am besten erreichen.

 

Sie sind Aktivist und Kommunalpolitiker. Können Sie durch diese Doppelrolle inklusive Projekte in der Kommune schneller möglich machen?

Klar habe ich dadurch größere Chancen, allein weil ich die persönlichen Kontakte zu anderen Politikerinnen und Politikern und zur Verwaltung habe. Es ist für mich allerdings auch ein zweischneidiges Schwert. Ich möchte nicht wahrgenommen werden als der Quotenmensch mit Behinderung, der sich um Inklusion kümmert. Deshalb beschäftige ich mich kommunalpolitisch auch mit anderen Themen, beispielsweise mit dem öffentlichen Personennahverkehr. Ich lasse mich gern zum Fürsprecher machen für Inklusion in meiner Kommune. Doch dabei bin ich nicht unbedingt derjenige, der die Projekte jedes Mal anschiebt. Ich sehe mich als Kommunalpolitiker eher in der vermittelnden Rolle.

Warum ist diese Vermittlungsrolle wichtig?

Es gibt auf beiden Seiten Missverständnisse: bei den Organisationen, die vor Ort etwas bewegen wollen, und in der Verwaltung. Das ist ganz normal, beide Seiten haben unterschiedliche Funktionen und Interessen. Organisationen, Gruppen und Aktivisten brennen vor Enthusiasmus und möchten alles möglichst schnell umsetzen. Die fragen sich dann: „Da wird gerade eine neue Straße für zwei Millionen Euro gebaut – und für uns sind keine 10.000 Euro übrig?“ Auf der anderen Seite gibt es die Verwaltung, die Anfragen für 500 neue Projekte bekommt, die sie im Haushalt einplanen soll. Die denkt sich: „Jetzt will die Organisation X auch noch 10.000 Euro. Und außerdem haben wir doch schon drei Projekte, die etwas mit Inklusion zu tun haben.“ Dazwischen muss man vermitteln. Ich muss bei den Organisationen und Gruppen dafür werben: Ja, es dauert seine Zeit, bis eine Verwaltung Geld bereitstellen und Projekte einplanen kann. Auf der Seite der Kommune wiederum braucht es das Verständnis dafür, wie das Leben als Mensch mit Behinderung in unserer Gesellschaft ist. Und ein Verständnis dafür, dass das nicht nur das Sozialdezernat zu interessieren hat, sondern auch mal das Dezernat für Hochbau oder für Verkehr.

Wie hat sich denn Ihre Perspektive auf die Kommunalpolitik verändert, seit Sie Lokalpolitiker sind? Sie sind ja bereits seit 2011 im Kreistag.

Wenn ich von Freunden und Bekannten höre: „Dann soll die Verwaltung halt mal machen. Wie kann das denn drei Jahre dauern? Warum tut denn keiner was?“, dann merke ich, dass ich darauf mittlerweile eine andere Perspektive habe. Bei größeren Projekten bin ich froh, wenn ich sie in den ersten fünf Jahren so auf die Kette gekriegt habe, dass es in der nächsten Wahlperiode zur Umsetzung reicht. Ich bin mir total bewusst, dass Aktivistinnen und Aktivisten dann ungeduldig werden und sich fragen, wie denn in fünf Jahren so wenig passieren könne. Ich empfinde das als Aktivist auf anderen Ebenen auch so. Am Ende geht es um Vertrauen auf beiden Seiten. Das ist meine wichtigste Erkenntnis überhaupt. Wenn eine Verwaltung sagt, dass etwas auch mal zwei Monate dauert oder, dass sie dafür nicht zuständig ist – dann muss sie darauf vertrauen können, dass das nicht gleich als Ausrede oder Unwillen gesehen wird. Und auf der anderen Seite müssen die Aktivisten darauf vertrauen können, dass die Verwaltung zu ihrem Wort steht, wenn sie sagt: Darum kümmern wir uns nächstes Jahr. Dann muss im nächsten Jahr auch wirklich etwas passieren. Dieses gegenseitige Vertrauen aufzubauen, braucht Zeit.

Portraitbild von Constantin Grosch
Seit 2022 ist Constantin Grosch Abgeordneter im niedersächsischen Landtag, seit 2011 Mitglied des Kreistags im Landkreis Hameln-Pyrmont. 2019 übernahm er den Vorsitz der SPD-Kreistagsfraktion. 

Bringt Sie Ihre Doppelrolle auch manchmal in Konflikte?

Ja, total. Natürlich schmerzt mich die ein oder andere Entscheidung meiner Fraktion. Beispielsweise als wir vor drei Jahren den Neubau einer Förderschule für Menschen mit sogenannter geistiger Behinderung beschlossen haben. Aus einer aktivistischen Perspektive würde ich das Ganze auf links drehen: Inklusion bedeutet für mich, alle Schülerinnen und Schüler gemeinsam an einer Schule zu unterrichten. Aber aus einer politischen Perspektive und mit Blick auf Zuständigkeiten weiß ich: Es ist manchmal nicht anders möglich.

In welchen Situationen sehen Sie sich als Lokalpolitiker, in welchen als Aktivist?

Also hier vor Ort, aufs Regionale bezogen, bin ich eher Kreistagsabgeordneter und Kommunalpolitiker. Auf Landes- oder Bundesebene bin ich Aktivist. Und da schrecke ich auch nicht davor zurück, meine eigene Partei anzugreifen und zu sagen, wo meiner Meinung nach etwas schiefläuft. Es gibt aber auch Situationen in der Kommune, in denen ich mich als Aktivist engagiere. In Hameln wurde jetzt eine der wenigen Behindertentoilette in der Altstadt abgerissen, ohne Ersatz. Dagegen habe ich demonstriert. Und da habe ich auch als Abgeordneter gesagt: Das ist ein bisschen komisch – um es mal freundlich zu formulieren.

Wie sollten sich Aktivist*innen gegenüber Lokalpolitik und Verwaltung verhalten, um ihr Ziel zu erreichen?

Für mich als Abgeordneten ist es extrem wichtig, dass ich Hinweise bekomme, wo etwas schiefläuft. Nur dann kann ich diese Hinweise beispielsweise mit in unsere jährliche Klausurtagung nehmen. Dort bereiten wir Finanzpläne vor, führen Grundsatzdebatten und treffen strategische Entscheidungen. Es hilft, wenn die Akteure dabei schon mal Lösungsmöglichkeiten aufzeigen. Sinnvoll ist auch immer, wenn Initiativen ihre Themen bündeln. In ein Gespräch mit der Bürgermeisterin oder dem Landrat sollten sie immer mehrere Themen mitnehmen. Weil es für die Landrätinnen und Bürgermeister dann einfacher ist, einzelne Themen zu identifizieren, die sie möglichst schnell umsetzen können. Beispielsweise weil es dafür gerade Fördermittel gibt. Das kann der Beginn eines dauerhaften Austauschs sein. Ein halbes Jahr später kann die Initiative wieder Kontakt aufnehmen und sagen: „Beim letzten Mal ist bei unserem Treffen ja etwas Positives herausgekommen. Es wäre schön, wenn wir daran anknüpfen könnten.“ Zu dem Treffen bringen die Akteure die Themenliste wieder mit. Und vielleicht haben sich in der Zwischenzeit neue Möglichkeiten zur Umsetzung weiterer Projekte ergeben. Das ist für beide Seiten ein Erfolg.