Kongressthema: Vernetzung und Verantwortung
Mehr Zusammenhalt durch genaues Sprechen und Zuhören
Claudine Nierth vom Verein „Mehr Demokratie e.V.“ betont, wie wichtig es ist, mehr Zusammenhalt zu schaffen. Gerade in einer Zeit, in der die Distanzen in der Gesellschaft größer würden. Wie das gelingen kann? Vor allem über bestimmte Gesprächsformate, so Nierth, zum Beispiel über das Format „Sprechen und Zuhören“. Über Fragen wie: „Wie geht es dir in Bezug auf dieses Thema?“ können genaues Sprechen und Zuhören geübt und Bedürfnisse erkannt werden. Bei diesem Format werden alle Meinungen akzeptiert; die jeweils zuhörende Person beobachtet sich selbst genau. Wenn alles gesagt ist, werden die Rollen getauscht. Durch dieses Gesprächsformat werde das Bewusstsein der Menschen verändert. Menschen fühlten sich gehört und Distanzen werden verringert.
Wohlfahrt als Vernetzungs-Expertin
Vernetzung ist auch ein Thema für den Paritätischen Wohlfahrtsverband. Unter seinem Dach arbeiten mehr als 10.000 Organisationen deutschlandweit. Da gehe es viel um Zusammenarbeit und gute Kommunikation, sagt der Hauptgeschäftsführer des Gesamtverbandes, Dr. Joachim Rock. Überhaupt müsse Inklusion eine stärkere Verpflichtung für den Sozialstaat sein, damit sie überall greifen könne. „Es bestehen zu viele Barrieren in Bezug auf Sozialverpflichtungen. Leistungen in Anspruch zu nehmen, muss zugänglicher gemacht werden.“ In der Öffentlichkeit werde zwar viel über den Missbrauch von Leistungen gesprochen, aber nicht über deren Nicht-Gebrauch. Wichtig sei, dass vor allem Menschen mit Behinderungen sich mit engagierten und ihre Bedarfe selbst vertreten.
Um als Wohlfahrt Inklusion voranzubringen, sei Vernetzung unerlässlich, so Rock. So können die einigenden Bänder stärker geknüpft werden. Nur dann sei es möglich, politisch etwas zu bewegen. Gleichzeitig sei genau das eine große Herausforderung: „Mir ist zu viel Verzagtheit und Mutlosigkeit in der sozialpolitischen Debatte, man kann viel verändern, wir werden wahnsinnig viel verändern und durchsetzen müssen. Und das geht nur, wenn wir durch stärkere Vernetzung ins Gespräch kommen.“
Videos von Expert*innen
Insgesamt gestalteten rund 150 Referent*innen das vielfältige Programm des Kongresses mit. Einige von ihnen haben uns am Rande der dreitägigen Veranstaltung kurze Interviews gegeben. Wir wünschen Ihnen viel Freude beim Stöbern und Anschauen!
Blick zurück nach vorn
Im Modellprojekt „Kommune Inklusiv“ und im daraus entstandenen Programm „Inklusion vor Ort“ ist diese Art der Mitwirkung längst selbstverständlich. Dazu gibt die Podiumsdiskussion „Erfahrungen aus den Initiativen Inklusion vor Ort und Kommune Inklusiv“ einige gute Beispiele:
In Rostock haben sich die Verantwortlichen an Vereine im Basketball und Segeln gewandt und diese zu inklusiv denkenden Teams entwickelt. Davon erzählt Anika Leese, die Amtsleiterin für Soziales und Teilhabe der Stadt Rostock. Vor allem bei der inklusiven Segel-Weltmeisterschaft habe diese Idee große Strahlkraft nach außen entwickelt. In Dresden haben die Macher*innen darauf geachtet, ihr Netzwerk möglichst flexibel zu halten, sagt Beate Kursitza-Graf von der „Stadt AG - Aktives Netzwerk für ein inklusives Leben in Dresden e.V.“. So kann sich jede*r nach seinen Bedürfnissen engagieren.
Wer Inklusion sagt, muss Beteiligung meinen.
Mehrwert durch Vernetzung
Forscher haben in der Untersuchung des Modellprojekts „Kommune Inklusiv“ gesehen, dass die Vernetzung der Akteure ein zentraler Mehrwert für Projekte ist. Prof. Dieter Katzenbach von der Goethe-Universität Frankfurt erklärt, dass so auch Personengruppen mit am Tisch sein können, die sonst nicht so laut sind und keine große Lobby haben. Richtung der Mehrheitsgesellschaft gebe es aber noch einiges zu tun, vor allem in Sachen Barrierefreiheit, sagt er weiter. Am stärksten ausgegrenzt seien aktuell die Menschen, die eine andere Sprache brauchen. Das sind zum Beispiel Menschen mit Lernschwierigkeiten oder mit Migrationshintergrund, aber auch gehörlose Menschen. Außerdem betont Katzenbach die Ambivalenz des weiten Inklusionsbegriffs: Einerseits sei er gut, weil er viele verschiedene Gruppen mit einbeziehe. Andererseits meine mit „alle“ jede*r etwas anderes. So würden manche Menschen – gerade die leisen mit nicht so großer Lobby – tendenziell wieder unsichtbar. Daher müsste dies vor Ort unbedingt diskutiert und Zielgruppen definiert werden.
Zweiter Kongresstag: Workshops
An Tag zwei laufen in drei Runden insgesamt 33 Workshops. Entsprechend sind die Gruppen kleiner und es gibt viel Austausch zwischen Macher*innen aus den verschiedensten Bereichen.
Ergebnisse aus drei Workshops zum Thema Vernetzung und Verantwortung
Die Zusammenarbeit von Sozialen Trägern und Kommunen stellt alle Beteiligten vor Herausforderungen. Zum Beispiel wenn es um verwaltungsrechtliche und politische Vorgaben geht. Oder auch wegen der unterschiedlichen Perspektiven, Rollen und Aufgaben. Wie man damit produktiv umgehen kann, haben Jessica Steenbock und Sandra Fait-Böhme von „Inklusion vor Ort“ im Kreis Segeberg mit den Teilnehmenden erarbeitet. Sie repräsentieren die beiden Perspektiven von Sozialem Träger und Verwaltung.
Im Kreis Segeberg ging der Auftrag, die Kommunen inklusiver zu gestalten, vom Landrat aus. Das hatte große Symbolwirkung, erklären die beiden. Und dann ging es im übertragenen Sinne weiter, wie beim Bau eines Hauses: Das Fundament besteht vor allem aus Respekt und einer gemeinsamen Haltung. Der Zement ist die Kommunikation. Sie hält und verbindet alles Weitere. Die Räume, die daraus geschaffen werden, entsprechen stabilen Ansprechpersonen, einer Koordination und festen Regeln.
Ebenso wie ein Hausbau braucht diese Arbeit Zeit und Vertrauen. Die Vorgänge sind individuell und laufen auch mal anders als geplant. Zum Beispiel waren Vertreter*innen der Zielgruppe zwar von Anfang an mit eingebunden. Aber die Arbeit im Beirat funktionierte zuerst nicht so gut. Erst als die Organisation niedrigschwelliger wurde, hat es geklappt. Außerdem gab es zuerst Schwierigkeiten, Engagierte zu finden. Durch die Zusammenarbeit mit einem Sozialen Träger kam alles in Schwung.
Das Netzwerk, das das Projekt nutzt, gab es schon. So musste man das Rad nicht neu erfinden, sondern es nur wieder aktivieren, erzählt Jessica Steenbock. Ganz wichtig sei eine gute Willkommenskultur, um jede und jeden mit an den Tisch zu holen. Auch die örtlichen Politiker*innen. Es sei wichtig, ihr Interesse für das Projekt zu wecken. Teilweise funktionierten Entscheidungen dann auf dem kurzen Weg. Ziel sei es ganz klar, das Projekt „Inklusion vor Ort“ im Kreis Segeberg zu verstetigen. Eine halbe Stelle innerhalb der Stadtverwaltung ist schon bewilligt. Ideal wäre es, wenn das auf Seiten des Trägers auch gelingen könnte.
Bei der Entwicklung und Förderung von Inklusion und Chancengleichheit in der Gesellschaft spielt die Verwaltung eine wichtige Rolle. Die Beauftragten für Menschen mit Behinderung sind hier Brückenbauer*innen, denn Inklusion gelingt nur, wenn verschiedenste Akteur*innen aus Verwaltung und Zivilgesellschaft zusammenwirken. Dr. Tina Denninger aus Potsdam und Sascha Höhnow aus dem Landkreis Barnim haben mit den Teilnehmenden zusammengetragen, was es für erfolgreiche Netzwerkarbeit braucht.
Wenn man es mit heterogenen Strukturen zu tun hat, sei es nicht einfach, Synergien zu schaffen, erzählt Tina Denninger. Im Netzwerk „Sport Inklusiv“ des Stadtsportbundes gebe es zwar einen Koordinator. Es sei aber schwierig, eine Verbindlichkeit für die Teilnehmenden herzustellen. Warum sollten sie zu den Treffen gehen? Was kommt am Ende für sie dabei heraus? Dabei helfe es, ein spezifisches Ziel zu formulieren. Ein grobes Ziel wie „weniger Barrierefreiheit“ bringe in dem Fall nicht viel. Auch bei den Aufgaben gebe es Probleme, berichtet Denninger. Der Stadtsportbund dürfe nämlich nur koordinieren, aber nicht inhaltlich arbeiten. Sie als Behindertenbeauftragte hingegen hätte keinen Zugriff auf den Verteiler und daher keinen Einblick, wie viele Personen tatsächlich im Netzwerk sind.
Ein großes Problem für die Umsetzung von Inklusion sei die Sparpolitik in vielen Städten und Gemeinden. Dabei gebe es durch die UN-Behindertenrechtskonvention eine Verpflichtung zu Inklusion vor Ort. Eine der Teilnehmenden sagt, man müsse gezielt Personen aus der Politik ansprechen, um Allianzen zu schmieden. Verbände und Vereine hätten in diesem Zusammenhang eine wichtige Aufgabe, sagte ein anderer Teilnehmender: Wenn sie ihre Stimme erheben, kann sich die Kommune nicht verschließen.
Ein anderer Weg sei es, von der Basis auszugehen: So solle man die Menschen fragen, was sie möchten und brauchen. Eine Teilnehmende bekräftigt, dass bei solchen Befragungen häufig ganz andere Sachen herauskommen als man zunächst gedacht hätte. Man könne auch mit Broschüren und Imagefilmen die Attraktivität und den Mehrwert für jeden und jede deutlich machen. Solche Filme könnten von großen Vereinen in den sozialen Netzwerken gepostet werden.
Dritter Kongresstag: Forum "Miteinander Füreinander – wie Netzwerke Inklusion schaffen"
Expert*innen aus den Handlungsfeldern Arbeit und Wohnen erarbeiten zusammen mit den Teilnehmenden, wie Vernetzung die größte Wirkung entfalten kann. Die Stiftung „antonius : gemeinsam Mensch“ arbeitet im Projekt „Perspektiva“ eng mit Unternehmen zusammen, die Arbeitsplätze für Menschen mit Behinderung schaffen. Auch Kommune und Politik pflegen einen guten Austausch, im Netzwerk sind alle Sozialraum-Akteur*innen vertreten.
Der Verein WOHN:SINN und die Genossenschaft oekogeno ermöglichen inklusives Wohnen in ganz Deutschland. Das Netzwerk von WOHN:SINN umfasst mehr als 170 Organisationen, Gruppen und Personen. Menschen mit und ohne Behinderung bilden eine Auftraggeber-Gemeinschaft und verwirklichen ihre eigene inklusive Wohngemeinschaft. Oekogeno hat insgesamt 16.000 Mitglieder. Ein professionelles Team setzt die Bauprojekte um und trägt Wissen weiter. So entstehen selbstverantwortliche inklusive Hausgemeinschaften.
Die gehörlose Moderatorin Iris Meinhardt interviewt die Macher*innen. Dabei merkt Rainer Sippel, der Vorstand der Bürgerstiftung antonius an, dass Vernetzung in staatlichen Leistungen nie vorgesehen sei. Sie müsse immer durch Eigeninitiative und durch eigene Mittel finanziert werden. Sein Kollege André Literski ergänzt, dass Netzwerke am besten wachsen könnten, wenn bekannte Persönlichkeiten vorausgehen, zum Beispiel der Bürgermeister. Auch Vereine spielten eine wichtige Rolle. Wenn man mit ihnen zusammen Veranstaltungen organisiere, entstünden dadurch immer neue Gruppen.
Die Verantwortung liege meist zuerst bei einem Träger oder der Aktion Mensch. Sie gehe im Laufe eines Projekts an die Kommune über. Das funktioniere gut, so Literski, weil die Menschen sichtbar werden und Begegnungen stattfinden.
Simon Stott von oekogeno spürt in der Bevölkerung einen großen Wunsch nach mehr Vernetzung und Solidarität. Es brauche für benachteiligte Gruppen allerdings Unterstützung und Finanzierung, um entsprechende Vorhaben zu ermöglichen. Bei oekogeno übernimmt die Genossenschaft den Bauprozess, die Bewohner*innen geben das Geld, damit die Projekte umgesetzt werden können und Assistenzdienstleister kommen als Kooperationspartner hinzu. So entstehe ein Zusammenspiel, das zu lebendigen Hausgemeinschaften führt. Pierre Zinke, der Vorsitzende von WOHN:SINN ergänzt, dass es nie den einen gebe, der die Verantwortung trägt. Das sei immer auf viele Schultern verteilt, was auch gut sei.
Ergebnisse aus dem Forum
In Gruppenarbeit haben die Teilnehmenden erarbeitet, wie Vernetzung am besten wirksam werden kann. Und was Verantwortung für die Netzwerkarbeit bedeutet. Hier die wichtigsten Ergebnisse:
Gelingende Vernetzung
- Jedem Mitglied des Netzwerks sollte bewusst sein, welchen Nutzen er oder sie daraus ziehen kann.
- Expert*innen in eigener Sache müssen beteiligt sein.
- Bestehende Schätze nutzen. Man muss das Rad nicht immer neu erfinden.
Wie gelingt Partizipation?
- Einen Ort schaffen, an dem einem zugehört wird, wo Vertrauen entsteht.
- Leichte Sprache, Dolmetscher*innen. Alle müssen alles verstehen können.
- Klare Redezeiten, damit alle mal zu Wort kommen.
Verbindlichkeit
- Persönliche Ansprache.
- Probleme klar benennen.
- Haltung erzeugen.
Spaß
- An den Rand der eigenen Bubble gehen. Da warten die neuen Potenziale.
- Austausch mit Schleifen aus Sprechen, Zuhören, Nachfragen
- Kreativität in die Gestaltung bringen.
Verantwortungs-Gemeinschaft
- Unterschiede auch mal aushalten und vielleicht sogar wertschätzen.
- Regelmäßigkeit und Hartnäckigkeit pflegen
- Nicht zu moralisierend auftreten. Dann entstehen weniger Vorurteile.
Zusammenarbeit gestalten
- Stärken der Teilnehmenden finden.
- Tandems und Patenschaften bilden.
- Aufgaben bei Bedarf unterteilen und auf mehrere Schultern verteilen.
Das Ziel im Auge behalten
- Es ist wichtig, das Ziel klar und deutlich zu formulieren.
- So bekommt man auch leichter Geld für Projekte.
- Regionale Strukturen beachten.
Verantwortung für Barrierefreiheit
- Man muss die Barrieren aktiv suchen.
- Gute Vorbereitung bei Veranstaltungen nötig.
- Es geht nicht nur um bauliche Barrieren, sondern auch um Sprache und Visuelles. Zwei-Sinne-Prinzip nutzen.