"Gute Forschung bietet nicht Antworten, sondern hilft, die richtigen Fragen zu stellen"
Prof. Dr. Hendrik Trescher und Prof. Dr. Dieter Katzenbach, Leiter der wissenschaftlichen Begleitforschung bei Kommune Inklusiv, über die Vorteile und die Herausforderungen dieser Methode.
Was ist das Besondere an der wissenschaftlichen Begleitforschung, insbesondere bei sozialen Projekten und Modellvorhaben?
Dieter Katzenbach: Anders als bei der Grundlagenforschung gibt es hier einen Anwendungsbezug. Es geht um reale Veränderungen. Und zwar nicht nur aus einem wissenschaftlichen Interesse. Es geht nicht nur darum zu erforschen: Wäre eine Veränderung potenziell möglich? Sondern darum, dass die Veränderungen tatsächlich passieren. Das Besondere bei der wissenschaftlichen Begleitung ist, dass wir Impulse in die Projekte zurückgeben. Das unterscheidet die Begleitforschung von der Evaluation, die einen stärker bewertenden Charakter hat. Wissenschaftliche Begleitforschung bedeutet nicht: Ein Projekt macht irgendwas, Wissenschaftler messen den Effekt und melden zurück: „Hat geklappt, hat nicht geklappt“. Wenn wir ein Projekt mit einer langen Laufzeit wissenschaftlich begleiten, bemühen sich alle Beteiligten, unsere Befunde auch wieder aufzugreifen. Dadurch wirkt Begleitforschung verändernd auf ein Projekt und seinen Verlauf ein. Die Ergebnisse der Begleitforschung spiegeln sich so in der Gesellschaft, im tatsächlichen Leben wider.
Hendrik Trescher: Das Besondere an der wissenschaftlichen Begleitung von Vorhaben wie Kommune Inklusiv ist, dass man diese stetige Reflexion hat. Wir bieten den Handelnden an, über konkrete Fragen, Herausforderungen und Entwicklungen in der Praxis gemeinsam zu reflektieren – mithilfe unseres Wissens, unserer Methoden und unserer Analysen. Die Ergebnisse unserer Forschung besprechen wir mit den Akteurinnen und Akteuren und unterstützen sie dabei, daraus Schlüsse für ihr Projekt und ihr künftiges Vorgehen zu ziehen. Gute Forschung bietet in erster Linie nicht Antworten, sondern hilft, die richtigen Fragen zu stellen und gemeinsam zu reflektieren.
Welche Herausforderungen bringt wissenschaftliche Begleitforschung mit sich?
Hendrik Trescher: Jedes Mal, wenn wir ein Ergebnis produzieren und dadurch ins Projekt eingreifen, verschiebt sich das Projekt. Und dann, das merken wir bei Kommune Inklusiv auch, kommen ganz konkrete Umsetzungsfragen. Beispielsweise: ,Wir kommen an Werkstätten nicht heran, weil sie geschlossene Systeme sind. Was können wir denn da jetzt machen?’ Klar haben wir eine Expertise und können Vorschläge machen. Nur: In diesem Moment geben wir Handlungspraxen vor, die wir ja eigentlich untersuchen sollen. Das ist ein schmaler Grat.
Dieter Katzenbach: Praxis ist am Gelingen orientiert, Wissenschaft an Wahrheit und Logik. Diesen Unterschied sollte man nicht wegwischen. Wissenschaft ist nun mal nicht Praxis, sie ist vom Handlungsdruck entlastet. Sie kann Dinge denken, die für Handelnde aus der Praxis erst einmal egal sind. Wissenschaft bietet die Chance zu Kritik. Und das kann in der Zusammenarbeit zur Kränkung führen – wenn Wissenschaftler aus der Außenperspektive locker vom Schreibtisch aus sagen: ,Was ihr da macht, ist alles andere als zielführend.’ Oder: ,Was ihr macht, bringt zwar Effekte, aber auch unerwünschte Nebeneffekte, die ihr gar nicht in den Blick nehmt.’ Es ist nicht nur die Frage des passenden Tons – das hohe Kränkungspotenzial liegt in der Natur der Sache. Denn die Praxis öffnet ihre Türen, damit wir reingucken können. Und die Wissenschaft lässt sich eben nicht in die Karten gucken. Das ist strukturell als asymmetrisches Verhältnis angelegt. Meine Erfahrung ist: Wir werden immer wieder angefragt mit der Bitte nach dem Blick von außen. Und dann müssen wir sehr behutsam sein, wenn wir sagen, was wir gesehen haben.
Wann ist eine Begleitforschung für soziale Projekte und Modellvorhaben sinnvoll?
Hendrik Trescher: Das Projekt sollte nicht in einem reinen Ursache-Wirkungs-Zusammenhang stehen. Wenn es nur um eine höhere Zahl oder einen besseren Output geht, ist die wissenschaftliche Begleitung am Ende nicht mehr so relevant. Für uns ist es besonders dann interessant, wenn wir beobachten können, wie sich Gesellschaft verändert.
Dieter Katzenbach: Weitere Aspekte sind der innovative Charakter und der wissenschaftliche Erkenntniswert. Bei der Begleitforschung sollte nicht nur das herausgekommen, was sowieso alle schon wissen. Außerdem ist wichtig: Haben die Partner tatsächlich ein Erkenntnisinteresse oder geht es um Legitimationsbeschaffung? Das ist ein ziemlich starker Aspekt. Es ist nicht unüblich, dass Projekte, die etwas Innovatives versuchen, sich um eine wissenschaftliche Begleitung bemühen. Die hat aber manchmal lediglich die Aufgabe, den Erfolg wissenschaftlich seriös zu bestätigen. Der Projektbericht liegt dann schon am Anfang gedanklich fertig in den Schubladen.
So etwas stellt sich vermutlich oft erst heraus, wenn das Projekt bereits läuft, und nicht schon im Vorfeld?
Hendrik Trescher: Deshalb ist wichtig, vorher zu klären: Was sind überhaupt Ziel und Gegenstand des Projekts? Welche Teile des Projekts sollen wir uns anschauen? Und vor allem: Welche Rolle sollen wir als Wissenschaftler spielen? Geht es darum, dass wir uns zwei, drei Aspekte anschauen, einmal am Anfang und einmal am Ende messen? Oder geht es wirklich um eine wissenschaftliche Begleitung?
Was ebenfalls sehr wichtig ist: Wie wird Kommunikation gelebt? Wer kommuniziert auf welchen Wegen mit wem? Und wie werden Ergebnisse präsentiert? Ist da jemand zwischengeschaltet, der sich die für ihn wichtigsten drei Ergebnisse herauspickt? Oder präsentieren wir als Wissenschaftler die Ergebnisse? Gerade in Fällen von typischer Legitimationsbeschaffungs-Forschung, wie Dieter Katzenbach sie beschrieben hat, gibt es Kommunikationswege, bei denen wir sagen müssen: OK, das hat keinen Sinn mehr. Wissenschaftliche Begleitforschung ist nur dann sinnvoll, wenn die Auftraggeber bereit sind, die Ergebnisse, so wie sie sind, zu nutzen und auch Kritik zu hören.
Dieter Katzenbach: Dass wissenschaftliche Begleitung Krisenmomente hat, kenne ich, ehrlich gesagt, nicht anders. Man muss immer wieder innehalten und das Verhältnis neu bestimmen zwischen wissenschaftlicher Begleitung und Projekt. Unser Verständnis ist es eben auch, irritierend zu wirken. Reflexion soll in dieser Hinsicht etwas anderes sein als nur Bekräftigung. Das kann kränkend sein – auf jeden Fall lästig. Es kann dazu führen, dass die Handelnden die Reflexion nicht mehr als hilfreich empfinden, sondern sich in Verteidigungsposition gedrängt fühlen. Dann ist es gut, darüber zu reden. Letztlich muss jedes Projekt für sich entscheiden, ob eine wissenschaftliche Begleitung wirklich hilfreich ist. Manchmal stehen Aufwand und Ertrag in keinem Verhältnis. Wenn die Begleitung teurer ist als die Maßnahme, ist es natürlich Quatsch. Wissenschaftliche Begleitung bedeutet einen gewissen Aufwand für die Projektverantwortlichen. Die haben in der Regel genug zu tun, müssen dann aber Zeit für die Begleitforschung investieren. Die Leute sehen es oft sehr unterschiedlich, ob diese Form von Austausch und Reflexion ihnen tatsächlich weiterhilft – oder ob sie sie als vertane Zeit empfinden.
Wie lässt sich mehr Inklusion in einer Stadtgesellschaft überhaupt messen?
Hendrik Trescher: Um zu messen, wie sich eine Stadtgesellschaft insgesamt verändert, brauchen Sie einen langen Zeitraum und viele Instrumente - quantitative und qualitative. Die wissenschaftliche Begleitung von Kommune Inklusiv nimmt neben dem Sozialraum auch die von Ausschluss bedrohten Gruppen und Projekt-Maßnahmen in den Kommunen in den Fokus.
Dieter Katzenbach: Gesellschaftliche Teilbereiche können wir uns anschauen und dort objektive Daten erheben. Es gibt Indikatoren, die kann man messen, wie den Ausschluss vom Arbeitsmarkt. Doch viele dieser Indikatoren sind in hohem Maße interpretationsbedürftig, und sie sagen gar nichts aus über die Qualität der Teilhabe. Im Bereich der Zivilgesellschaft, in Lebensbereichen wie Freizeit oder Arbeit, macht es wenig Sinn beispielsweise zu sagen: In vier Jahren messen wir den Erfolg von Kommune Inklusiv an der Anzahl der Sportlerinnen und Sportler mit Behinderung im Turnverein. Es braucht immer auch qualitative Untersuchungen.
Hendrik Trescher: Wenn das Ziel des Projekts ist, mehr Teilhabe zu schaffen, können wir beispielsweise von der sogenannten Kontakthypothese ausgehen. Sie besagt, dass Menschen offener gegenüber der Teilhabe von Menschen beispielsweise mit Behinderung oder mit Flucht-Migrationshintergrund eingestellt sind, wenn sie bereits Kontakt zu dieser Personengruppe hatten. Wenn am Ende der Projektlaufzeit prozentual deutlich mehr Menschen bei Haushaltsbefragungen antworten: Ja, ich habe Kontakt zu Menschen mit einer geistigen Behinderung oder mit Flucht-Migrationshintergrund, dann können wir daraus schließen, dass es eine Entwicklung hin zu mehr Inklusion gibt. Denn je mehr dieser Kontakte es gibt, desto mehr gehören Menschen mit Behinderung oder mit Flucht-Migrationshintergrund zum Bild der Mehrheitsgesellschaft. Das lässt sich also auf eine gewisse Weise messen. Auch Offenheit können wir messen. Zum Beispiel, indem wir fragen: Wäre es für Sie in Ordnung, wenn Menschen mit einer Teilhabebeeinträchtigung an Aktivitäten in Ihrer Freizeiteinrichtung teilnehmen?
Inklusion ist ein langer Prozess. Sie werden deshalb vermutlich nicht sagen können: Aufgrund von Kommune Inklusiv ist die Stadt Rostock nach sechs Jahren Projektlaufzeit wesentlich inklusiver geworden. Doch Sie können sicher sagen, dass das Modellvorhaben Ansätze geschaffen und Impulse gesetzt hat. Und wenn diese weiter berücksichtigt und bearbeitet werden, kann das längerfristige Auswirkungen haben – beispielsweise auf gesellschaftliche Einstellungen, politische Handlungspraxis und soziales Miteinander.
Was können Akteurinnen und Akteure aus anderen Kommunen aus den bisherigen Erkenntnissen bei Kommune Inklusiv lernen?
Hendrik Trescher: Unter anderem: Worauf sie sich einlassen, wenn sie ein Vorhaben für mehr Inklusion im Sozialraum starten, wo die Knackpunkte und Herausforderungen sind. Wir haben eine bundesweite repräsentative Befragung zum Thema Einstellung zu Inklusion gemacht. Sie liefert ein Stimmungsbild, wie sich die Menschen zu Inklusion verhalten und welche Ideen, Ansprüche und Ängste sie mit ihr verbinden. Wir haben unter anderem gefragt: Wären Sie bereit, für mehr Inklusion mehr Steuern zu zahlen? Über diesen Aspekt wird viel diskutiert, wenn ich die Befragungsergebnisse auf Tagungen vorstelle. Die Inklusionsbefragung als solche interessiert viele Leute. Auch weil es grundsätzlich ein hohes Interesse an Zahlen gibt. Die Zahlen bringen allerdings nichts, wenn sie nicht eingeordnet werden. Die repräsentative Befragung kann Kommunen deshalb als Vergleichsgrundlage für eigene Erhebungen dienen.
Dieter Katzenbach: Was im Verlauf des Prozesses klarer geworden ist: Es ist wichtig, die Akteurs-Konstellation stärker in den Blick zu nehmen. Die Frage ist, welche Balance sollten Sie zwischen den verschiedenen Gruppen herstellen? Da sind die breite Öffentlichkeit, die Akteurinnen und Akteure aus der Fachwelt, die Vertreterinnen und Vertreter der Zivilgesellschaft, die Menschen aus den Zielgruppen. Projektverantwortliche sollten weder über die Köpfe der Menschen aus der Zielgruppe hinweg entscheiden, noch sollten sie denken: Es reicht, die Menschen aus den Zielgruppen zu mobilisieren. Reale Veränderungen werden wahrscheinlich vor allem die Akteure aus der Zivilgesellschaft erzeugen: beispielsweise Vereinsvorsitzende, Kirchenvorstände, die Handwerkskammer, der Bund Deutscher Vermieter. Ein Projekt hat begrenzte Ressourcen. Wie setzen die Handelnden diese Ressourcen am besten ein, um die verschiedenen Akteurinnen und Akteure ins Projekt einzubeziehen? Das stellt sich bei Kommune Inklusiv gerade als spannend heraus.