Dokumentation: Der erste Kongresstag 

Die beiden Moderatorinnen Christina Marx und Ninia LaGrande eröffnen den Kongress "Veränderung gestalten. Kommunen werden inklusiv" am 26. November 2024, pünktlich um 14 Uhr. Der letzte Kongress der Aktion Mensch zum Thema inklusive Sozialraum-Gestaltung ist schon sechs Jahre her, sagt Christina Marx. Daher ist es gut, dass es nun zu einer Neuauflage kommt. Es ist gut und wichtig, sich darüber auszutauschen, wie wir Veränderung aktiv mitgestalten können und was der Sozialraum dabei für eine Rolle spielt. 
Interview mit Theo Koll – Kuratoriumsvorsitzender der Aktion Mensch
Christina Marx spricht beim Kongress 2024
Christina Marx

Für sprachliche Barrierefreiheit ist gesorgt: Es gibt Gebärdensprach- und Schriftdolmetscher*innen, außerdem Simultan-Verdolmetschungen in Leichte Sprache. Ein Awareness-Team von der Agentur für Barrierefreiheit Leipzig sorgt dafür, dass sich alle wohl und sicher fühlen und dass es keine Diskriminierung gibt. 

Auf den verschiedenen Etagen des Kongresszentrums gibt es an den drei Tagen unterschiedliche Aussteller*innen und Mitmach-Angebote. Zum Beispiel diese:

Zwei Rollstuhlfahrer bei einem Rollstuhlparcours
Sportangebot des Deutschen Rollstuhl-Sportverband (DRS)

Aussteller*innen und Mitmach-Angebote

  • Der Visually Impaired Person Simulator ist eine Virtual-Reality-Anwendung, um sehenden Menschen die Welt aus der Perspektive von Menschen mit geringem Sehvermögen näherzubringen. Michael Roever von transfer e.V. stellt das Projekt vor.
  • Die Kongress-Besucher*innen gestalten während der drei Tage eine „Bank gegen Ausgrenzung“. Die Lebenshilfe Heinsberg hat gemeinsam mit der Werkstatt „DeinWerk“ Bänke entwickelt, die auf der rechten Seite keine Sitzfläche haben. So können Menschen mit und ohne Rollstuhl nebeneinander sitzen. 
  • Kurzfilme zum Thema „alltägliche Diskriminierungs-Erfahrungen“ zeigt die Lebenshilfe Lüneburg-Harburg. Dabei kommen die Protagonist*innen fast ohne Worte aus.
  • Empowerment durch Digitalisierung: Eine Holzfräse mit künstlicher Intelligenz macht die Bedienung auch mit Behinderungen wie zum Beispiel einer Spastik möglich. Andere Beispiele für KI und praktische Tipps zeigt auch der Stand der Technischen Universität Dortmund
  • KulturLeben Berlin – Schlüssel zur Kultur e.V.“ setzt sich für mehr kulturelle Teilhabe ein. Vor allem für sozial benachteiligte Menschen werden kostenlose Veranstaltungen angeboten. Am Stand kann man mit Mitarbeitenden und Künstler*innen sprechen.
  • Die LIGA Selbstvertretung Thüringen ist seit 2018 aktiv. Ihr Ziel: Die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK). Bei der Tagung möchten zwei Mitarbeitende mit den Menschen ins Gespräch kommen.
  • Inklusive Sportangebote und Informationen gibt es von den Special Olympics Deutschland (SOD), dem Forschungsinstitut für Inklusion durch Bewegung und Sport (FIBS), dem Deutschen Rollstuhl-Sportverband (DRS) und dem Deutschen Behinderten-Sportverband (DBS).
Interview mit Georg Kohlen - Lebenshilfe Heinsberg
Eine Frau sitzt hinter einem Stand der LIGA Selbstvertretung Thüringen
Stand der LIGA Selbstvertretung Thüringen 

Neue Impulse für die Umsetzung von Inklusion

Der erste Tag nähert sich dem Sozialraum auf der Meta-Ebene. Was haben zum Beispiel Demokratie und Inklusion miteinander zu tun? Oder gesellschaftlicher Zusammenhalt mit Inklusion? Und wie können Kommunen Inklusion vorantreiben? Die Begrüßung kommt von Armin von Buttlar, seit 2009 Vorstand der Aktion Mensch. Im gleichen Jahr hat Deutschland die UN-BRK ratifiziert. Man hätte keinen besseren Zeitpunkt für diesen Kongress wählen können, so von Buttlar. Denn wir leben in bewegten Zeiten, vieles verändert sich fundamental. Manchen Menschen macht das Angst. Ein Hinweis darauf ist, dass sie mehr sparen als jemals zuvor. Die Aktion Mensch weiß, dass Inklusion ein guter Motor ist, um das gemeinsame Leben und den gegenseitigen Respekt zu verbessern. Daher will sie mit diesem Kongress neue Impulse für die Umsetzung von Inklusion erhalten.  

Krisen meistern und Veränderung gestalten

Theo Koll, der Vorsitzende des Aktion Mensch-Kuratoriums, sieht Deutschland an einem der schwierigsten Momente in seiner Geschichte. Es gibt viele Krisen und tiefgreifende Veränderungen. Auf beides sind wir weder mental noch wirtschaftlich vorbereitet. Die Lage wird schwieriger, die Kassen knapper, und viele Menschen ziehen sich auf sich selbst zurück. In solchen Zeiten steht Inklusion in Gefahr, als Luxusthema abgestempelt zu werden. Dabei ist sie ein Menschenrecht! Deshalb sollten wir gemeinsam Verantwortung übernehmen für den Sozialraum, für den Ort also, an dem wir gemeinsam leben. Der Titel des Kongresses „Veränderung gestalten. Kommunen werden inklusiv“ ist damit mehr als eine Überschrift. Es ist Teil der Antwort. Denn die Auswirkungen der Krisen sind besonders deutlich vor Ort zu spüren. Sie führen zu Vereinzelung und zu Rückzug. 

Demokratie braucht Inklusion in einem weiten Sinn. Menschen sollten unabhängig von Herkunft, Beeinträchtigung oder sozialem Status die gleichen Chancen zur Teilhabe haben. Das ist der Nährboden von Gemeinschaft. Leider werden Inklusion und Teilhabe noch lange nicht überall umgesetzt.  

 

Menschen sollten unabhängig von Herkunft, Beeinträchtigung oder sozialem Status die gleichen Chancen zur Teilhabe haben. Das ist der Nährboden von Gemeinschaft. 

Theo Kroll

In den vergangenen Jahren hat die Aktion Mensch in vielen Kommunen wertvolle Erfahrungen zur Umsetzung von Inklusion im Sozialraum gesammelt. Seit 2018 ist sie unterwegs, um in Städten und Gemeinden vor Ort partizipative Prozesse zu unterstützen, Netzwerke aufzubauen und das Thema Inklusion in die Öffentlichkeit zu bringen. Dabei wurde deutlich, welche Rahmenbedingungen es braucht, um Inklusion vor Ort nachhaltig und wirksam umzusetzen. Partizipation und Vernetzung spielen dabei eine wesentliche Rolle. Das wurde schon im Modellprojekt „Kommune Inklusiv“ deutlich. Und das zeigt jetzt die Initiative „Inklusion vor Ort“, in dem die Aktion Mensch Partnerschaften mit vier Bundesländern eingegangen ist: Schleswig-Holstein, Nordrhein-Westfalen, Sachsen und dem Saarland. 

Der Kongress in Erfurt bietet die Gelegenheit, Probleme offen zu benennen, aber auch positive Beispiele für Teilhabe zu betrachten und zu teilen. Zuversicht ist wie ein Muskel. Man muss sie nutzen und dadurch stärken. Deshalb soll diese Konferenz dem Austausch von Ideen und der Inspiration dienen. Für eine inklusive und lebenswerte Gesellschaft. Die Aktion Mensch steht dabei als Partnerin zur Verfügung. Doch es braucht das  Engagement, die Ideen und die Tatkraft aller, sonst wird diese  Aufgabe nicht bewältigen werden. 

Theo Kroll spricht beim Kongress 2024
Theo Kroll

Film „Lost Places – Oder wo ist der Zusammenhalt?“

Das Forschungsinstitut gesellschaftlicher Zusammenhalt (FGZ) forscht dazu, unter welchen Umständen gesellschaftlicher Zusammenhalt am besten gelingen. Das ist vor allem für Inklusion und Teilhabe von Bedeutung. Wichtige Grundlage dafür ist die öffentliche Infrastruktur, aber auch die Art, in der die Stadtteile sozial und ökonomisch zusammengesetzt sind. Das macht der Film „Lost Places – Oder wo ist der Zusammenhalt?“ deutlich. Darin zeigt das FGZ, wie sich beispielsweise die unterschiedlichen Infrastrukturen in Stadt und Land auf den Zusammenhalt unter den Menschen auswirken. Der Film nennt Lösungsansätze für die Gestaltung von Gesellschaft vor Ort, zum Beispiel das Soziale-Orte-Konzept.

Keynote „Gesellschaftlicher Zusammenhalt vor Ort“ von Dr. Angelina Göb, FGZ

Angelina Göb ist Co-Projektleiterin im Forschungsinstitut Gesellschaftlicher Zusammenhalt (FGZ) und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Wirtschafts- und Kulturgeografie der Leibniz Universität Hannover. Sie untersucht schwerpunktmäßig soziale Zusammenhänge in Verbindung mit dem Raum. Sie schaut sich Muster und Strukturen an, die wir vor Ort finden. Dabei fragt sie oft: Was ist Nachbarschaft? Und hat zwei oft gegebene Antworten mitgebracht. Die erste: „Nachbarschaft heißt Zusammenleben, dass man nicht alleine ist.“ Wir alle haben den Wunsch nach Zusammengehörigkeit. Die andere Antwort war: „Nachbarschaft heißt Sicherheit, heißt Zusammenhalt.“ Das scheint gerade in unsicheren Zeiten ein wichtiger Punkt zu sein. Zusammenhalt wird also sehr positiv bewertet. Er gilt als wünschenswert und erstrebenswert. 

Aber was ist denn eigentlich „Zusammenhalt“? Laut einer Definition der Bertelsmann-Stiftung spielen dabei die sozialen Beziehungen, Gemeinwohl-Orientierung und Verbundenheit eine Rolle. Auch Vertrauen in Mitmenschen und Institutionen, die Anerkennung von Regeln sowie die Akzeptanz von Diversität und Gerechtigkeit sind wichtig. Rainer Forst, Professor für Politische Theorien und Philosophie, unterscheidet fünf Dimensionen des gesellschaftlichen Zusammenhalts: 

  • Individuelle und kollektive Einstellungen gegenüber sich selbst und anderen
  • Individuelle und kollektive Handlungen
  • Intensität und Reichweite sozialer Beziehungen und Netzwerke
  • Institutionelle Zusammenhänge der Kooperation und Integration
  • Diskurse in einer Gesellschaft über Zusammenhalt

Videos von Expert*innen

Insgesamt gestalteten rund 150 Referent*innen das vielfältige Programm des Kongresses mit. Einige von ihnen haben uns am Rande der dreitägigen Veranstaltung kurze Interviews gegeben. Wir wünschen Ihnen viel Freude beim Stöbern und Anschauen!

Ninia La Grande und Angelina Göb auf der Bühne beim Kongress 2024
Angelina Göb (rechts) mit Moderatorin Ninia LaGrande 

Die zentrale Frage, die nur vor Ort beantwortet werden kann ist: „Wie wollen wir zusammenleben? Nach welchen Werten und Normen?“ Gerade in Zeiten von vielfältigen Krisen muss diese Frage gestellt werden. Denn Krisen sind nicht nur negativ, sondern schaffen auch Gestaltungsspielraum für Erneuerungen. Wenn der Zusammenhalt gegeben ist, kann er Transformations-Prozesse anstoßen und so wieder neue Orientierung geben. Der Zusammenhalt kann also sowohl Ressource als auch Produkt sein. Wenn man in einer Krise zum Beispiel anderen hilft, greift man zunächst auf die Ressource Zusammenhalt zurück und stiftet gleichzeitig ein Gefühl des Zusammenhalts vor Ort, das bleibt.

Möglichkeiten der Beteiligung

Dabei fühlt und sieht jeder und jede andere Möglichkeiten der Beteiligung. Die eine ist aktiver, der andere passiver.  Was es vor Ort auf jeden Fall braucht, sind so genannte „Anlassgeber“. Menschen müssen sich die Räume aneignen können, um sich dort zu treffen und auszutauschen. Zum Beispiel in einem Stadtteiltreff oder in einer öffentlichen Bibliothek, aber auch auf einem Fitness-Parcours, einem Marktplatz oder jedem anderen beliebigen Ort. Regeln, die dabei gelten sollen, müssen gemeinsam ausgehandelt werden. 

Für die Gestaltung der einmal gefundenen Räume, zum Beispiel durch Projekte oder Aktionen, braucht es Aktivierung, Partizipation und Empowerment. Gerade im Kollektiv werden Stimmen eher gehört und bekommen mehr Relevanz.  Menschen fühlen sich dadurch gestärkt, erleben Handlungsmacht und Autonomie. Gut ist, wenn Positionen und Haltungen aus dem Projekt heraus kommuniziert und somit sichtbar werden, wenn man Symbole und Signale nach außen sendet. Zum Beispiel „Ein Ort für alle“, „Love your neighbour“ oder „Wir halten zusammen“. So entsteht außer dem Zusammenhalt innerhalb der Gruppe einer, der darüber hinausgeht und zu anderen Gruppen oder Einzelpersonen Brücken baut. 

In der Nachbarschaft entsteht und entwickelt sich gesellschaftlicher Zusammenhalt. Sie macht Zusammenhalt erfahrbar, erfassbar und begreifbar. 

Angelina Göb 

Nachhaltigkeit ist wichtig für Projekte

Doch welche sozialen und räumlichen Rahmenbedingungen hemmen oder fördern gesellschaftlichen Zusammenhalt vor Ort? Mangelnde Ausstattung, ungleiche Verteilung von Ressourcen, ein Gefühl der Unsicherheit oder auch Barrieren hemmen zum Beispiel. Was hilft, sind Vertrauen und Vertrautheit, Wertschätzung, Überschaubarkeit des Sozialraums, Bewusstsein, geschützte Räume, Inklusion und ein Gefühl der Zusammengehörigkeit.

Und wie können wir zivilgesellschaftliche Verantwortung voranbringen? Vernetzung und Vermittler*innen zwischen den Akteur*innen aus verschiedenen Bereichen sind wichtig. Ebenso die Verstetigung, denn oft verlaufen Projekte nach dem veranschlagten Zeitraum im Sande. Sie sind nicht nachhaltig geplant. Hier braucht es personelle, finanzielle und zeitliche Ressourcen. 

Für die Umsetzung und Verstetigung der Projekte braucht es professionelle Akteur*innen, eine Kümmerin oder einen Kümmerer, die das Tun vor Ort treiben und verantworten. Denn Nachbarschaftshilfe funktioniert im Nahbereich ganz gut. Wird die Reichweite größer, nehmen Anteilnahme und Unterstützung aber rapide ab und werden unverbindlicher. Gesellschaftlicher Zusammenhalt wird daher oft als etwas Theoretisches gesehen. Wohingegen Nachbarschaft und der „Zusammenhalt vor Ort“ konkret erlebt werden, da es die Lebens- und Alltagswelt ist, die jeder kennt. Hier kann jeder konkret handeln. In der Nachbarschaft entsteht und entwickelt sich somit gesellschaftlicher Zusammenhalt. Sie macht Zusammenhalt erfahrbar, erfassbar und begreifbar. Denn sie reduziert die gesellschaftliche Komplexität auf einen überschaubaren Raum. Somit ist Nachbarschaft  eine Art Bearbeitungsebene für die verschiedenen Krisen und dient dem Ausgleich. 

Teilnehmende des Kongresses 2024 im Saal
Blick in den voll besetzen Saal

Keynote „Die Demokratie braucht uns!“ von Claudine Nierth von „Mehr Demokratie e.V.“

Claudine Nierth ist Politaktivistin und Vorständin des Vereins „Mehr Demokratie“. Mit diesem Hintergrund hat sie in ihrer Keynote den Fokus auf die kommunale Ebene als Grundpfeiler unserer Demokratie gesetzt. Durch mehr Beteiligungsmöglichkeiten kann die Demokratie weiterentwickelt werden, sagt sie. So wie im Jahr 2024 der Bundestag den Bürgerrat „Ernährung“ in Auftrag gegeben hat. „Mehr Demokratie“ hat diesen Bürgerrat zusammen mit anderen Organisationen zusammengestellt und durchgeführt. Aus allen Bundesbürger*innen wurden 160 Menschen ausgelost und angesprochen. 

„Die Würde des Menschen ist unantastbar“, steht im Grundgesetz. Und Claudine Nierth selbst übt sich jeden Tag in solchen Zitaten. Meistens bekommt man gar nicht mit, wenn man jemanden nicht achtet, übersieht oder ihm Unrecht tut, sagt sie. Aus der psychologischen Gesundheitsforschung wisse man, dass Menschen zwei Dinge jeden Tag brauchen, um gesund zu sein: Wahrgenommen zu werden und etwas zu bewegen und zu gestalten. Wenn diese Bedürfnisse missachtet werden, fangen wir an zu rebellieren. Sowohl im Familienkreis als auch gesamtgesellschaftlich gesehen, zum Beispiel bei Demos. 

Claudine Nierth auf der Bühne des Kongresses 2024 mit Moderatorin Ninia La Grande
Claudine Nierth (links) mit Moderatorin Ninia LaGrande

Polarisierung im politischen und privaten Umfeld

In ihrem Buch „Die zerrissene Gesellschaft“ schreibt sie über Polarisierung im politischen, gesellschaftlichen und privaten Umfeld. Und es zeigt sich, dass Distanz und Polarisierung meistens in uns selbst entsteht. Wenn einem etwas nicht gefällt, wendet man sich ab und entzieht sich. Aber wie geht es einer Demokratie, in der Menschen sich voneinander distanzieren? Laut Grundgesetz hat jeder und jede das Recht, voraussetzungslos an der Demokratie zu partizipieren. Aber was ist, wenn sich einzelne entziehen? Bei Freundschaften und Partnerschaften muss ein Streit noch nicht das Ende bedeuten. Schwierig wird es aber, wenn einer sich komplett abwendet. Leider ist es in unserer Sozialisierung nicht untypisch, dass man sich schnell trennt, statt Konflikte miteinander auszutragen und zu einem guten Ende zu bringen. 

„Mehr Demokratie“ hat untersucht, wie man Zusammenhalt schaffen kann, wo die Distanzen doch tendenziell größer werden. Klar ist: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Wenn wir also Dinge hören, steht es uns frei, sie nicht gut zu finden. Vielleicht verachten wir sie sogar. Niemals aber den Menschen. Um trotzdem im Austausch bleiben zu können, hat der Verein „Mehr Demokratie“ ein Format entwickelt, das schon in einigen Kommunen angewendet wird. Es heißt „Sprechen und Zuhören“, das gibt es an jedem ersten Mittwoch im Monat auch online. Sie finden alles dazu auf der Webseite des Vereins . Die Macher*innen nutzen das Format aber auch vor Ort, in Kommunen, in denen die Menschen nicht mehr viel miteinander sprechen. 

Menschen und Meinungen akzeptieren

Bei jeder Veranstaltung gibt es ein Thema, und die Frage lautet immer: „Wie geht es dir in Bezug auf dieses Thema?“ Das ist wesentlich persönlicher als zu Fragen: „Wie denkst du über dieses Thema?“ Denn so akzeptieren wir, dass jeder Mensch seine Position und seine Meinung hat. Und keiner versucht das zu beeinflussen. Von den vier Menschen, die am Format teilnehmen, spricht jeder vier Minuten. Die anderen drei hören jeweils einfach nur zu, und sie beobachten sich dabei, wie sie zuhören. Nach der ersten Runde gibt es eine zweite und eine dritte, zur selben Frage. Typischerweise entspannt sich die Situation im Raum im Laufe der Zeit. Nach einer kleinen Pause kommen alle im großen Kreis zusammen. Und dann gibt es einen Austausch dazu, was die Teilnehmenden gesehen und gehört haben. Oft melden die Menschen zurück, dass sie es sehr genossen haben, aussprechen zu dürfen. Eine Teilnehmerin sagte auch: „Ich wusste gar nicht, wie ich spreche, wenn mir zugehört wird.“ 

In diesem Format werden auch Moderator*innen ausgebildet. Und viele, die am Format teilnehmen, möchten es wieder tun oder die Idee weitertragen. Auch Politiker*innen begreifen immer mehr, dass sie die Leute fragen müssen. Sie können Vorschläge machen, sollten sich den Vorschlägen der anderen aber nicht verschließen. Entsprechend hat „Mehr Demokratie e.V.“  zu diesem Format auch schon die ersten Anfragen aus der Wirtschaft erhalten. In all diesen Gesprächen gab es übrigens noch nie „schlimme“ Situationen. Denn wenn Menschen sich in die Augen gucken und miteinander sprechen, läuft das anders als in den Sozialen Medien oder per E-Mails 

Blick in den voll besetzten Saal beim Kongress 2024
Blick ins Publikum

Mehr Informationen führen nicht unbedingt zu anderen Meinungen

Warum ist es so wichtig, jedem Menschen seine Meinung zu lassen? Weil man so gut wie nie seine einmal gefundene Position verlässt. Meinungen und Haltungen werden meist Teil unserer Identität. Und die geben wir ungern auf. So wird aus einem Atomkraft-Gegner nie ein Atomkraft-Befürworter. Es geht also nicht um einen Mangel an Informationen. Mehr Informationen führen nicht zu anderen Meinungen. Wenn man aber in Ruhe die Position von einigen anderen Menschen ausführlich hört, dann kann etwas in Bewegung kommen. Wenn man akzeptiert, dass man das Gegenüber nicht ändern kann, führt das zu Entspannung. Klar ist, dass hinter jeder Position meistens ein Bedürfnis steht. Wenn uns diese Bedürfnisse der anderen durch das Gesprächsformat klarer werden, rücken wir näher zusammen.  

Wichtig ist aber auch die psychologische Sicherheit. Google wollte in der sogenannten Aristoteles-Studie herausfinden, welche Gruppen gut zusammen arbeiten und die besten Ergebnisse bringen.  Ergebnis: Das sind nicht die Gruppen mit den meisten Expert*innen oder den besten Freund*innen, sondern die, in denen die psychologische Sicherheit am höchsten ist. Wo also das gegenseitige Vertrauen der Teilnehmenden am größten ist. Psychologische Sicherheit gewährleistet, dass Menschen sich voll und ganz einbringen. Im Gegenzug hat man festgestellt, dass viele Menschen an ihren Arbeitsplätzen nur 60 bis 70 Prozent ihrer Fähigkeiten zeigen können. Unausgegorene Ideen traut man sich dann zum Beispiel nicht zu äußern. So ist es auch in der Politik, auch hier fühlen sich die gewählten Vertreter*innen teils nicht mehr sicher. 

Wenn man alle Menschen einbezieht, kann man über sehr viele Kompetenzen verfügen. Insofern braucht die Demokratie uns alle.

Claudine Nierth

Demokratie braucht alle

Bürgerbeteiligung kann Menschen zusammenbringen und Brücken schlagen. Dazu ein Beispiel aus Baden-Württemberg: Das Land bezieht eine Staatsrätin für Zivilgesellschaft und Bürgerbeteiligung bei Entscheidungen ein. Ehrenamtlich, mit Stimm- und Rederecht sowie einem kleinen Mitarbeiter*innenstab. Sie achtet darauf, dass die Bürger*innen eingebunden werden. „Ich glaube, das ist so ein bisschen der Goldstandard der Einbeziehungsmöglichkeiten von Demokratie“, so Claudine Nierth.  

Wenn man alle Menschen einbezieht, kann man über sehr viele Kompetenzen verfügen. Insofern braucht die Demokratie uns alle. Denn die Probleme sind komplex, die Antworten darauf nicht einfach. Die Erfahrung im Verein „Mehr Demokratie“ ist: Menschen werden aus dem Melderegister ausgelost und per Brief kontaktiert.  Aber viele von ihnen fühlen sich nicht wirklich angesprochen. Manchmal ist es nötig, mehrmals nachzuhaken, damit die Leute sich wirklich gemeint fühlen. Vielleicht sogar mal bei Ihnen persönlich vorbeizugehen und zu klingeln. Wie nehmen wir untereinander Kontakt auf? Wie bemerken wir einander? Und wie können wir einander ansprechen und den richtigen Ton finden? Privat, gesellschaftlich und politisch sind das wichtige Weichen, die wir stellen können. 

Wenn man inhaltlich Distanz zu einem Gegenüber spürt, kann man sich trotzdem menschlich zuneigen und Kontakt halten. Es braucht das gemeinsame Erlebnis, um andere zu verstehen. Das Fazit aus der  Arbeit des Vereins in den Gemeinden ist: Es gibt ein riesiges Bedürfnis nach Zugehörigkeit. Wie und wo werden heutzutage die Räume dafür geschaffen? Daran arbeitet der Verein. Optimistisch sein ist aber wichtig, denn die Zuversicht ist ein Muskel, den man trainieren kann. Für Demokratiefitness hat „Mehr Demokratie e.V.“ insgesamt zehn Muskeln ausfindig gemacht. In Schulen oder Belegschaften kann man dazu ein 20-minütiges Training machen. Zum Beispiel, seine Position zu behalten oder einmal die Position des Gegenübers einzunehmen. Es geht auch darum, eine neue Art des Zuhörens zu lernen. Dieses Format bietet der Verein „Mehr Demokratie“ an, und es ist in der Kommune für unterschiedliche Gruppen sehr leicht anzuwenden.  

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