"Der wissenschaftliche Blick auf das Projekt hilft uns, die richtigen Wege zu finden."

Carolina Zibell leitete das Modellvorhaben Kommune Inklusiv. Bei der Aktion Mensch begleitet  sie außerdem das Programm Inklusion vor Ort.
 

Ist der neutrale, wissenschaftliche Blick auf das eigene Projekt hilfreich oder schmerzvoll?

Definitiv beides. Ich persönlich empfinde die wissenschaftlichen Erkenntnisse als sehr konstruktiv und hilfreich. Die Ergebnisse bieten eine Reflexion, die man sonst nicht hat. Wissenschaft ist dazu da, die richtigen Fragen zu stellen. Und die richtigen Fragen sind oft schmerzhaft. Aber sie führen dazu, noch mal zu prüfen: Ist das alles so richtig, was wir hier machen und wie wir es machen? In unserem Fall: Wird durch unser Tun die Kommune tatsächlich inklusiver?

Nach dem ersten Lesen des Zwischenberichts der wissenschaftlichen Begleitung von Kommune Inklusiv – was war Ihr Eindruck?

Im ersten Augenblick war es sehr schön, schwarz auf weiß zu lesen, dass wir auf dem richtigen Weg sind. Aber natürlich haben wir auch einige Punkte gefunden, an denen wir noch arbeiten müssen. Zum Beispiel hat die Wissenschaft festgestellt, dass der Inklusionsbegriff in den Modellkommunen unscharf ist, dass also nicht jede und jeder das Gleiche unter Inklusion verstehen. Uns wurde dadurch bewusst: Es ist wirklich ein Problem, wenn man zwar das Gleiche sagt, aber nicht das Gleiche meint. Das hat uns zu der Erkenntnis gebracht: Es ist wichtig, immer wieder in den Dialog darüber zu gehen, um ein gemeinsames Verständnis zu finden. Der Begriff der Barrierefreiheit ist auch so ein Beispiel.

Inwiefern?

Wir müssen nach wie vor Bewusstsein für die unterschiedlichen Barrieren schaffen. Ein Beispiel aus unserer Evaluation zeigt das ganz gut: An einer baulich und technisch barrierefrei gestalteten Bushaltestelle – mit erhöhtem Bordstein und Niederflurbussen – beobachteten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler folgendes: Mehrfach fuhr der Bus nicht nahe genug an die Haltekante. Menschen mit Kinderwagen oder Gehstöcken schafften es kaum, die Distanz zwischen Bordstein und Bus zu überwinden und einzusteigen. Da nutzt der beste Umbau nichts, wenn das Bewusstsein für die Barrieren fehlt. Außerdem haben beim Thema Barrierefreiheit die meisten vor allem Rollstuhlfahrerinnen und -fahrer vor Augen und betrachten nur Menschen, die mobilitätseingeschränkt sind. Aber Barrieren gibt es nicht nur für Rollstuhlfahrerinnen und Rollstuhlfahrer oder gehbehinderte Menschen. Viele Menschen brauchen Barrierefreiheit, obwohl man ihnen die Behinderung gar nicht ansieht. Zum Beispiel Gehörlose, Blinde oder Menschen, die nicht gut lesen können.

Wie nutzt die Aktion Mensch die Erkenntnisse des Modellvorhabens?

Die Erfahrungen aus Kommune Inklusiv fließen zum Beispiel in das aktuelle Fokusthema der Aktion Mensch: inklusiver Sozialraum. Vor allem helfen sie bei der Planung von Maßnahmen für diesen Schwerpunkt. Unsere Erkenntnisse stoßen auch viele interne Diskussionen an und haben beispielsweise das Thema Partizipation mehr in den Vordergrund gerückt. Der wissenschaftliche Blick auf das Projekt hilft uns, die richtigen Wege zu finden.

Frau mit langen dunklen lockigen Haare n
Caro Zibell hält einen Vortrag

Die Erkenntnisse aus der Evaluation betreffen Ihre Arbeit auf allen Ebenen: von der Steuerung des gesamten Vorhabens bis zu einzelnen Maßnahmen in den fünf Modellkommunen. Wie lassen sich Planungen und Zielsetzungen in einem laufenden Prozess verändern?

Als Modellvorhaben erkunden wir Wege für eine inklusivere Gesellschaft. Um dem großen Ziel näherzukommen, braucht es Flexibilität. Die Vision ist klar: Alle Menschen vor Ort können selbstverständlich teilhaben und etwas beitragen. Mit Kommune Inklusiv wollen wir herausfinden, wie das geht und wie sich Teilhabe-Beschränkungen abbauen lassen. Dafür probieren wir immer wieder verschiedene Wege und Maßnahmen aus, zum Beispiel Partizipationsverfahren wie die kooperative Projektplanung. Die Wissenschaft sagt auch: Man muss den Inklusionsprozess aushandeln. Es gibt nicht die eine Vorgehensweise auch, weil alle Kommunen unterschiedlich sind. Wir prüfen in den Modellkommunen stetig durch regelmäßige Reflexionsschleifen, wir nennen sie Boxenstopps, was gut funktioniert und was nicht. Und ob wir noch auf dem richtigen Weg sind. Es verändert sich auch oftmals etwas durch günstige Gelegenheiten.

Zum Beispiel?

Also da geht es vor allem um Neuausrichtungen, die in den Kommunen sowieso anstehen. Wir nutzen dann mit Kommune Inklusiv die Gelegenheit, Inklusion in diese Prozesse einzubauen. In der Modellkommune Erlangen haben wir zum Beispiel durch unsere Netzwerkarbeit mitbekommen, dass das Konzept der Stadtteilhäuser verändert werden soll. Das sind Begegnungsorte in den Vierteln mit verschiedenen Angeboten und Maßnahmen. Das Kommune Inklusiv-Projektteam vor Ort hat die Gelegenheit ergriffen vorzuschlagen: „Wenn schon anders, dann auch inklusiv!“ So ist eine Kooperation entstanden, die die Stadtteilarbeit verändert. Eine Arbeitsgruppe, bei der auch einige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Stadtteilhäuser dabei sind, überlegt jetzt, wie sich Inklusion besser in die Stadtteilarbeit integrieren lässt.

Nicht jedes Projekt braucht eine wissenschaftliche Begleitung. Und nicht alle haben das Geld, sich professionell evaluieren zu lassen. Was raten Sie kleineren Projekten?

Bei jeder Maßnahme kann man per Fragebogen die Einschätzung und Zufriedenheit der Teilnehmerinnen und Teilnehmer erfragen und auswerten. Und egal wie groß ein Projekt ist: Man kann nicht einfach weitermachen, wenn etwas nicht klappt oder niemand zu einer Veranstaltung kommt. Man muss sich dann fragen: Woran liegt es? Was können wir anders machen? Deshalb empfehle ich unabhängig von Wissenschaft und Evaluation: Nehmen Sie sich Zeit für Reflexionsschleifen – mit dem gesamten Team, der Zielgruppe und am besten mit externer Moderation. Eine Moderation nimmt die Projektleitung aus der Verantwortung – so kann sie mitreflektieren. Gemeinsam darüber zu sprechen, was gut läuft und was nicht, sich die Gedanken, Ideen und Vorschläge von den Kolleginnen, Kollegen, Partner*innen sowie den Menschen aus der Zielgruppe zum Projekt anhören – das gibt jedem Projekt Auftrieb.