Kommune Inklusiv Gemeinden: Nieder-Olm und Schneverdingen
Rund 130 Kommunen aus ganz Deutschland hatten sich für eine Teilnahme an Kommune Inklusiv beworben. Nach eingehender Prüfung wurden schließlich Rostock, Erlangen, Schwäbisch Gmünd, Menschen Nieder-Olm und Schneverdingen als Pilotregionen ausgewählt. Bei der Auswahl hat Aktion Mensch viele verschiedene Aspekte geprüft: Ist die kommunale Verwaltung aktiver Partner des Netzwerks? Können alle Beteiligten auch auf lange Sicht ausreichend Engagement und Professionalität aufbringen? Haben die Akteure ein breites Inklusionsverständnis, das über Maßnahmen wie Rollstuhlrampen oder Niederflurbusse hinausgeht? Wie werden die Bürger in die Prozesse einbezogen? Sind die Ziele, die sich die Kommunen gesteckt haben, realistisch? Und haben die geplanten Maßnahmen tatsächlich das Potenzial, die Teilhabemöglichkeiten vor Ort zu steigern? „Außerdem haben wir darauf geachtet, dass sowohl Städte als auch Gemeinden im ländlichen Raum im Programm vertreten sind und dass der Stand der Inklusion unterschiedlich ist“, erläutert Zibell. Letzteres zeigt sich an Nieder-Olm und Schneverdingen, den beiden kleinsten Kommunen, die bei Kommune Inklusiv mitmachen. Während es in Nieder-Olm schon lange feste Strukturen und gezielte Maßnahmen gibt, die Inklusion vorantreiben sollen, ist ein systematischer Umgang mit dem Thema für Schneverdingen noch relativ neu.
Wie die beiden Gemeinden mit den unterschiedlichen Voraussetzungen umgehen, welche Pläne und Herausforderungen es jeweils gibt und welche Menschen an einer inklusiveren Zukunft auf dem Land mitarbeiten, stellen wir in diesem Blogbeitrag vor.Verbandsgemeinde Nieder-Olm
Dienstags ist Markt in Nieder-Olm. Gracia Schade trifft man dort fast jede Woche. Zum Einkaufen kommt die Koordinatorin des örtlichen Netzwerks von Kommune Inklusiv aber nicht her – zumindest nicht in erster Linie. Stattdessen ist sie hier mit Menschen mit und ohne Behinderung verabredet, die dasselbe wollen wie sie: ein Lebensumfeld gestalten, in dem jede und jeder problemlos und selbstverständlich am öffentlichen Leben teilhaben kann. „Meist diskutieren wir bei einem Glas Wein über unsere Ideen und kommen dabei auch mit anderen Leuten auf dem Markt ins Gespräch“, erzählt Schade. „Dadurch ergeben sich oft ganz neue Perspektiven.“ Der informelle Inklusionstreff am Weinstand illustriert, was Nieder-Olm und viele seiner Bewohnerinnen und Bewohner ausmacht: Unkompliziert sind sie, lebensfroh, engagiert – und offen für Neues.
Die Verbandsgemeinde Nieder-Olm liegt in der Region Rheinhessen, ganz in der Nähe der rheinland-pfälzischen Landeshauptstadt Mainz. Sie besteht aus den Ortsgemeinden Essenheim, Jugenheim, Klein-Winternheim, Ober-Olm, Sörgenloch, Stadecken-Elsheim, Zornheim und der Stadt Nieder-Olm. Weinberge und sanfte Hügel prägen die Landschaft rund um die Ortschaften.
Die Schönheit der Gegend, die gute Anbindung an Mainz und die entspannte Lebensart machen die Verbandsgemeinde zu einer bevorzugten Wohngegend. In den letzten 40 Jahren hat sich die Einwohnerzahl mehr als verdoppelt. Aktuell leben hier rund 34.500 Menschen, davon etwa 10.000 in der Stadt Nieder-Olm.
Demenzfreundliche Kommune
Wie sich das Zusammenleben für all diese Menschen positiv gestalten lässt, ist eine Frage, die die Kommune schon länger umtreibt. Eine Reihe guter Antworten wurden bereits gefunden. Für ihren Einsatz gegen Fremdenfeindlichkeit wurde die Verbandsgemeinde 2010 vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend als Ort der Vielfalt ausgezeichnet. Ein Jahr später entstand ein Aktionsplan zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention, erarbeitet vom Beirat für Menschen mit Behinderung und der kommunalen Verwaltung. „Viele der Ziele, die im Plan aufgeführt sind, haben wir inzwischen erreicht“, sagt Annette Hambach-Spiegler, Abteilungsleiterin Bürgerdienste und damit zuständig für den Bereich Inklusion. Sie unterstützt den Kommune-Inklusiv-Prozess vonseiten der Verbandsgemeinde. „Um nur zwei Beispiele zu nennen: Die Beschäftigtenquote von Menschen mit Behinderung ist gestiegen. Und wichtige Amtsschreiben erhalten die Bürgerinnen und Bürger nun auch in Leichter Sprache.“ Außerdem ist die Verbandsgemeinde eine von bundesweit nur rund 50 Demenzfreundlichen Kommunen. Der Arbeitskreis Demenzfreundliche Verbandsgemeinde organisiert Veranstaltungen für Menschen mit und ohne Demenz und informiert über die besonderen Bedürfnisse von Menschen mit Demenz.
Teilhabe ermöglichen
Im Rahmen von Kommune Inklusiv sollen weitere Teilhabebeschränkungen fallen. Genau genommen geht es in Nieder-Olm darum, acht Gemeinden inklusiver zu machen. „In einer Verbandsgemeinde ist jedes Mitglied rechtlich eigenständig und regelt viele Angelegenheiten selbst“, erläutert Bürgermeister Ralph Spiegler. „Außerdem hat jeder Ort andere Rahmenbedingungen, von der Geografie über die Einwohnerzahl bis zu den Vereinsstrukturen. Deshalb unterscheiden sich die Teilhabemöglichkeiten von Ort zu Ort teils erheblich.“ Mit Beratung und Unterstützung bei konkreten Projekten soll das Netzwerk von Kommune Inklusiv dazu beitragen, dass sich die Bedingungen angleichen.
Schneverdingen
„Herzlichen Glückwunsch! Wir haben Ihre Gemeinde für die Teilnahme an unserer Initiative Kommune Inklusiv ausgewählt.“ Als diese Nachricht von Aktion Mensch im Februar in Schneverdingen ankam, hat Bürgermeisterin Meike Moog-Steffens erst mal tief durchgeatmet. „Ich habe mich sehr gefreut, schließlich haben wir uns ja mit viel Einsatz um die Teilnahme beworben“, sagt Moog-Steffens. „Aber es gab schon auch den Gedanken: Ist das nicht doch eine Nummer zu groß? Schließlich sind wir eine kleine Kommune mit begrenzten Ressourcen.“
Name: Schneverdingen
Bundesland: Niedersachsen
GPS-Koordinaten: 53° 6‘ 58.435“ N 9° 47‘ 32.437“ O
Einwohner: 18.800
Charakter: freundlich, bodenständig, engagiert
Schneverdingen für alle
Davon zeugt sehr eindrücklich das Stadtmarketing, ein Bürgerbeteiligungsprozess, der schon 2005 begonnen hat. Damals organisierte die Stadtverwaltung einen Workshop, bei dem jeder seine Ideen für ein attraktiveres Schneverdingen einbringen konnte. Daraus ist ein fortlaufender Prozess entstanden, in dem vor allem Ehrenamtler aktiv sind – und in dessen Rahmen mehr als 180 Projekte umgesetzt wurden. Seit einigen Jahren hat Schneverdingen beispielsweise ein Kino. Und einen Bürgerbus, der Menschen mit Mobilitätseinschränkungen von den Dörfern in die Stadt und wieder zurück bringt.
„An die Erfahrungen und Strukturen aus dem Stadtmarketing können wir mit Kommune Inklusiv sehr gut anknüpfen“, sagt Ulrike Schloo. Sie koordiniert gemeinsam mit Oliver Hofmann das Netzwerk der Initiative in Schneverdingen. Aktuell gehören unter anderen das örtliche Mehrgenerationenhaus, der Kulturverein Schneverdingen, der Turnverein Jahn, die Freiwillige Feuerwehr und Hilfen aus einer Hand, ein Träger der Kinder- und Jugendhilfe, dazu. Alle Netzwerkmitglieder sind etablierte Akteure, die mit ihren Angeboten seit Langem unterschiedlichste Menschen zusammenbringen und beim Abbau von Barrieren helfen. Das Ziel, das sie im Rahmen von Kommune Inklusiv anstreben, heißt: „Schneverdingen für alle“. Neben Vereinen und Unternehmen sind Einzelpersonen im Netzwerk engagiert. Eine davon ist Claudia Kaube, die infolge eines Multiple-Sklerose-Schubs seit zwei Jahren eine Gehbehinderung hat. „Vorher waren Inklusion und Barrierefreiheit für mich praktisch Fremdwörter“, erzählt sie. „Aber durch meine neue Lebenssituation hat sich der Blick sehr geweitet.“ Ihre Heimatstadt erlebt Kaube ganz neu, seit sie mit Rollator und Liegerad unterwegs ist: das Kopfsteinpflaster, die kurzen Ampelphasen, die wenigen Gastrobetriebe mit barrierefreier Toilette. „Es gibt noch einiges zu tun“, sagt Kaube. Besonders wichtig ist ihr, dass Menschen mit Behinderung, aber auch andere Gruppen, in Schneverdingen präsenter werden und selbstbewusst für ihre Interessen eintreten. „Gut wäre zum Beispiel ein Haus, wo sich alle Selbsthilfegruppen treffen und auch das Flüchtlingscafé angesiedelt sein könnte“, meint sie.
Aktive Bürgerbeteiligung
Ob die Idee von Claudia Kaube in die Tat umgesetzt wird und welche anderen Projekte im Rahmen von Kommune Inklusiv entstehen werden, ist – Stand Oktober 2017 – noch offen. Die Entscheidung hängt unter anderem davon ab, was die Schneverdinger wollen. Denn natürlich setzt auch Kommune Inklusiv auf Bürgerbeteiligung. Ende August fand im Saal des Freizeitbegegnungszentrums das erste Forum statt, bei dem Interessierte Fragen stellen und Vorschläge einbringen konnten. Fast 100 Menschen nahmen die Gelegenheit wahr. Bei der Veranstaltung wurde unter anderem deutlich, dass der Begriff Inklusion vielen noch unklar ist. „Die meisten denken nur an Inklusion in der Schule“, sagt Ulrike Schloo. Damit sich das bald ändert, steht Öffentlichkeitsarbeit ganz oben auf der To-do-Liste der beiden Koordinatoren. Angedacht sind beispielsweise eine Filmreihe im Schneverdinger Kino zum Thema Inklusion und Hospitationen der Koordinatoren bei verschiedenen Einrichtungen und Vereinen. „Dabei wollen wir mit noch mehr Menschen ins Gespräch kommen und ausloten, wo es vielleicht noch Teilhabebeschränkungen gibt, die wir gar nicht auf dem Schirm haben“, sagt Oliver Hofmann. „Und gleichzeitig natürlich auch mehr Bewusstsein für Inklusion schaffen.“
Dass die Schneverdinger großes Interesse daran haben, ihre Kommune lebenswert für alle zu gestalten, beweisen die Nachfragen, die seit dem Forum bei den Koordinatoren und im Rathaus eingehen. Wann es denn nun losgehe, wollen die Leute wissen. Da zeigt sich, dass es in Schneverdingen doch ein Problem mit Kommune Inklusiv gibt: Intensive Bürgerbeteiligung und die im Rahmen der Initiative vorgesehenen Abläufe passen nicht immer gut zusammen. „Kommune Inklusiv ist ja so angelegt, dass die Abläufe in allen Modellkommunen vergleichbar sind und die Vorbereitung viel Raum einnimmt“, schildert Gerhard Suder. „Es sollen ja gut durchdachte und nachhaltige Strukturen entstehen, die weit über das Ende der Initiative hinaus tragen.“ Den Schneverdingern sei die lange Vorlaufzeit aber schwer zu vermitteln. „Die wollen die Ärmel hochkrempeln und loslegen.“