„Können Sie das überhaupt?“
Schon immer mutig
Zwei Jahre war Agnes alt, als sie anfing, sich zur Wehr zu setzen. Wegen einer spastischen Lähmung der Muskulatur konnte sie noch nicht laufen. „Ein paar ältere Kinder lachten über mich, weil ich großes Mädchen im Buggy saß. Da habe ich sie aus dem Wagen heraus beschimpft, dass sie nicht so angeben sollen! Schließlich könne es ihnen genauso gehen, wenn sie einen Unfall hätten! Die waren ganz kleinlaut“, erinnert sie sich und lacht. Ein Kleinkind, das einen Haufen Fünfjähriger zur Schnecke macht. Manchen ist der Mut in die Wiege gelegt.
Zierlich, mit kurzen dunklen Haaren und Brille, steht Agnes an diesem Wintertag auf Gehhilfen gestützt im Winckelmann-Museum in Stendal und spricht mit ihren Mitarbeiter*innen. Sie leitet die Bibliothek des Hauses, hat an der Ausstellung mitgewirkt, macht Führungen und einen Teil der Öffentlichkeitsarbeit. Außerdem lehrt sie an der Volkshochschule, engagiert sich für das Theater der Stadt und hat einen Freundeskreis aus Menschen mit und ohne Behinderung. „An Inklusion habe ich für mich das Maximum erreicht“, sagt Agnes.
Was nicht heißt, dass der Weg dorthin leicht gewesen wäre. Hört man ihre bisherige Geschichte, waren es vor allem ihr fachliches Können, ihre Schlagfertigkeit und eine kluge Unerschrockenheit im Umgang mit Zumutungen und Herabwürdigungen, die sie so weit gebracht haben. Hinzu kam die Unterstützung von Wegbereitern, allen voran die ihrer Eltern. „Sie haben mich nie versteckt“, sagt Agnes, die in der DDR geboren wurde, „sondern mich überallhin mitgenommen. Sie haben mir zugehört und regelrechte Strategien mit mir entwickelt, wie ich Diskriminierung begegnen kann.“
Inklusion von Anfang an
Die Mutter begleitete sie in die Regelschule, damit sie wie alle am Unterricht teilnehmen konnte. „Immer wenn meine Schulkameraden mich im Sportunterricht angefeuert haben, hat mir das die Kraft gegeben, nicht aufzugeben und körperlich über mich hinauszuwachsen – trotz meiner Gehbehinderung,“ erinnert sich Agnes. Der Vater lud ihre Mitschüler*innen jeden Morgen zum Frühstück ein und stärkte so die Gemeinschaft um sein Kind. „Er hat mir immer gesagt: ‚Wenn dein Körper nicht richtig funktioniert, muss dein Geist umso mehr können.‘ Das hat mich angespornt, mein Bestes zu geben und auf meine Fähigkeiten zu vertrauen.“
Sie las, lernte, studierte Bibliothekswissenschaften und Latein in Berlin. Wurde Lehrerin am Gymnasium in Stendal, wechselte nach einigen Jahren zum Winckelmann-Museum. „Rückblickend hat mir die Stelle an der Schule den Weg in die Öffentlichkeit gebahnt“, sagt Agnes. „Weil ich gezwungen war, mich vor eine Klasse zu stellen und alle Ängste zu überwinden.“
Alltag als Lehrerin
Die Schüler*innen hätten sie „fantastisch“ aufgenommen und im Klassenzimmer Wettrennen mit ihren Stützen veranstaltet. Als ein Mädchen Agnes ins Gesicht sagte, ein Kind wie sie hätte man eigentlich abtreiben müssen, verteidigten die anderen ihre Lehrerin empört. Ein Erlebnis berührt Agnes bis heute: „Einmal hat in meinem Unterricht eine Schülerin ein anderes Kind „Spasti“ genannt. Ich habe mich vor ihr aufgebaut und gesagt: „Ich bin ein Spasti!“ Erschrocken brach sie in Tränen aus. Das Wort ist in dieser Klasse nie mehr gefallen.“
Doch der Umzug nach Stendal ergab für Agnes auch eine massive Einschränkung ihrer Mobilität: Weil die Lücke zwischen Bahnsteig und Zug zu groß ist, kann sie am Bahnhof nicht selbständig ein- und aussteigen. Der zuständige Mobilitätsservice der Bahn, der in diesen Fällen helfen soll, funktioniert oft nicht zuverlässig. „Mit dem Rollstuhl wollte man mich deshalb mehrfach nicht mitnehmen. Das fand ich wirklich diskriminierend.“ Beschwerden haben bislang nicht gefruchtet.
Barrieren bei der Arbeit
Auch im Museum stößt Agnes auf Barrieren – nicht bei Kolleg*innen, sondern bei Besucher*innen. Wenn sie durch die Ausstellung führt, richten sich erstaunte Blicke auf sie und es kommt gelegentlich zu der Frage: „Können Sie das überhaupt?“ Auch wenn sie dann nur kurz mit ihrem Wissen punkten müsse, um die Skepsis zu zerstreuen, nerve sie das sehr, sagt Agnes. Notgedrungen hat sie sich deshalb ein rigoroses Auftreten zugelegt, um sich Respekt zu verschaffen. „So einen strengen Tonfall, der eigentlich gar nicht zu mir passt.“
Wo sie ihr auch begegnet sind, Agnes hat immer gegen Hindernisse gekämpft. Sie fragt auch mal ironisch: „Möchten Sie eine Autogrammkarte?“, wenn jemand gar zu sehr starrt. Doch manchmal ist sie das alles müde. Dann fährt sie zur Erholung in ein barrierefreies Hotel, wo sie keine Hilfe braucht und sich bei niemandem bedanken muss. „Ohne Auszeit geht es nicht“, sagt sie und lächelt. „Dazu ist es mit der Inklusion dann doch noch nicht weit genug.“