Menschen mit Behinderung führen durch die Euthanasie-Gedenkstätte
Früher, in der Förderschule, hatte Lutz Albrecht, heute 58, schon etwas über den Nationalsozialismus gehört. Doch als er mit seiner Gruppe aus der Werkstatt der örtlichen Lebenshilfe vor rund zwei Jahren in Brandenburg an der Havel zum ersten Mal die Gedenkstätte für die Opfer der Euthanasie-Morde besuchte, habe er „ganz schön geschluckt“, berichtet der kräftige Mann. „Ich wusste nicht, dass auch behinderte Menschen zu den Todeskandidaten gehörten.“
Für ihn stand fest: „Ich wollte mehr darüber wissen.“ In der Werkstatt für behinderte Menschen bohrt und stanzt er tagein, tagaus Metallteile, doch in seiner Freizeit beschäftigt sich Lutz Albrecht seit Langem intensiv mit Geschichte. Durch die ehemalige Tötungsanstalt führten ihn damals Guides mit Lernschwierigkeiten. Direkt im Anschluss fragte er sie, ob er auch mitarbeiten kann. Er konnte, und nach einer Einarbeitung gehört der 58-Jährige inzwischen fest zum Team.
In der Gedenkstätte wird Inklusion großgeschrieben. Schon bei der Eröffnung der Dauerausstellung 2012 sei Wert auf Barrierefreiheit gelegt worden, berichtet der Historiker Christian Marx, der für die Aus- und Weiterbildung der Guides zuständig ist. Schon bald kam die Idee auf, dass Menschen mit Lernschwierigkeiten auch selbst in die Vermittlung der Dokumentation eingebunden sein sollten, so der Historiker.
9.000 Menschen wurden hier ermordet
Die ersten zwölf Teilnehmerinnen und Teilnehmer trafen sich 2016 fast ein Jahr lang regelmäßig im Seminarraum der Gedenkstätte und beschäftigten sich ausführlich mit der Geschichte der ehemaligen Tötungsanstalt. Auf dem Gelände, das zuvor als Gefängnis gedient hatte, wurden im Jahr 1940 im Rahmen der sogenannten Aktion T4 über 9.000 Menschen mit Behinderung oder psychischer Erkrankung ermordet.
Die meisten von ihnen stammten aus Einrichtungen in Ostdeutschland. Bei der Beschäftigung mit dieser dunklen Vergangenheit galt: „Ablauf, Inhalt und Tempo des Lernens bestimmen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer selbst“, betont Christian Marx.
Geschichte eines mutigen Richters
Diese Gruppe der ersten Guides erweitert sich von Zeit zu Zeit, wenn neue Interessenten dazustoßen, so wie Lutz Albrecht. Die Guides legten selbst fest, wie die Führungen ablaufen sollen. So beschlossen sie zum Beispiel, dass sie nicht – wie ursprünglich geplant – zu zweit als Tandem im Einsatz sind, sondern immer alle zusammen. „Das ist gut, falls jemand mal etwas vergisst oder zu sehr abschweift“, so Lutz Albrecht. Jeder Guide übernimmt einen eigenen Aspekt. Der 58-Jährige zeigt zum Beispiel ein Foto von Lothar Kreyssig. Er erzählt, wie der Amtsrichter die Ermordung der Patientinnen und Patienten zu verhindern versuchte, und erläutert: „Viele staunen, dass er so mutig gewesen ist.“
Alle zwei Monate treffen sich die Guides zum Austausch. Zudem probt ein Theaterregisseur einmal im Jahr mit ihnen, wie sie sicher auftreten. „Wir lernen, auch mal Pause zu machen“, berichtet Lutz Albrecht, „und nicht wie am Fließband zu reden.“ Einige Guides kämen bei ihren ersten Führungen etwas ins Schwitzen. Er selbst kennt keine Nervosität. Ihm macht es Spaß, anderen etwas zu erklären. „Das liegt mir einfach.“ Dabei macht es für ihn keinen Unterschied, ob es sich um Schulklassen, Studierende oder Gruppen aus Werkstätten für Menschen mit Behinderung handelt.