Das wir gewinnt

Inklusive Kinderbücher: Ein bisschen Utopie, bitte.

Inklusive Kinderbücher prägen Kinder und zeigen Ihnen die Vorteile einer vielfältigen Gesellschaft. Die Literaturwissenschaftlerin Tanja Kollodzieyski analysiert, welche Elemente dabei besonders wichtig sind.
Literaturwissenschaftlerin Tanja Kollodzieyski

Wenn ich an meine Kindheit zurückdenke, fällt mir ein einziges Kinderbuch mit einer Figur mit Behinderung ein: Klara aus „Heidi“. Wir erinnern uns kurz: Klara war eine blasse Rollstuhlfahrerin, die neben der lebensfrohen und quirligen Heidi sehr passiv wirkte. Die meiste Zeit wurde sie von allen anderen Protagonist*innen bemitleidet und am Ende konnte sie dann aufstehen und ihre ersten Schritte laufen. Ich habe Klara damals immer wieder beneidet, weil ich die Nachricht unbewusst sofort verstanden habe: Werde deine Behinderung los, sonst macht das Leben keinen Spaß. Der Haken an der Sache war natürlich, dass aufstehen und loslaufen in meiner Wirklichkeit nicht möglich waren.

Kinderbücher: erste Türen in die Welt

Ob ich als Kind im Rollstuhl meine Möglichkeiten und Chancen im Leben anders eingeschätzt hätte, wenn es mehr inklusive Kinderbücher gegeben hätte? Ich kann natürlich die Zeit nicht zurückdrehen und es ausprobieren, aber die Vermutung liegt nah. 

Kinder brauchen Geschichten, um die Welt um sie herum besser kennenzulernen. Sie gleichen ihre Erfahrungen und Erlebnisse mit Geschichten in Kinderbüchern ab, um sie besser einzuordnen. Anders als bei vielen Erwachsenen, die Literatur auch dazu nutzen, ihrer Realität zu entfliehen, sind Kinderbücher oft eine der ersten Türen zur Wirklichkeit, die Kinder öffnen und durchqueren. Bücher für Kinder prägen eine erste Sicht auf die Welt, die vielleicht noch nicht gefestigt ist, aber ihre Spuren hinterlässt. 

Häufig überwiegt der Blick von außen

Zum Glück gibt es heute wesentlich mehr Kinderbücher, die mit den Themen Behinderung und Inklusion umgehen. Allerdings gibt es unter Ihnen immer noch einige, die in die „Heidi-Falle“ laufen und ihre Protagonist*innen mit Behinderung als bemitleidenswert darstellen und auf ihre Behinderung reduzieren. Das liegt zu einem großen Teil daran, dass es auch heute leider sehr wenige Kinderbuch-Autor*innen gibt, die selbst mit einer Behinderung leben. Die meisten inklusiven Kinderbücher werden von Pädagog*innen oder Angehörigen geschrieben. Die Bücher geben also zwangsläufig einen Blick von außen wieder. So fließen auch die äußerlichen Vorurteile und strukturellen Diskriminierungen unbewusst oft mit ein.

Gute Merkmale: Vielfalt und Aktivsein

Natürlich gibt es aber auch Kinderbücher, die sich dieser Problematik bewusst sind und sie versuchen zu minimieren. Sie zeichnen sich meist dadurch aus, dass sie Geschichten erzählen, in denen mehrere Figuren mit Behinderung vorkommen. Alle Menschen sind einzigartig, das gilt natürlich auch für Menschen mit Behinderung. Auch Kinder mit Behinderungen haben unterschiedliche Talente und Interessen – sogar dann, wenn sie die gleiche Art der Behinderung teilen. Je größer die Vielfalt der Figuren in einer Geschichte ist, desto geringer ist die Möglichkeit dass ein*e Protagonist*in alle Klischees einer Menschengruppe abbildet. Dieses Prinzip gilt grundsätzlich für alle Figuren, ist aber für jene mit Behinderung besonders von Bedeutung, da Kinder mit Behinderung immer noch vereinzelt in vielen Geschichten auftreten.

Auf ins Abenteuer

Ein anderer bedeutender Faktor ist, wie die Geschichte mit der Behinderung selbst umgeht: Steht die Behinderung eines Kindes im Mittelpunkt der Handlung, wird die Figur meist darauf reduziert. In vielen Fällen wird das Kind mit Behinderung als passiv und abhängig dargestellt. In diesen Geschichten sprechen andere mehr über die Person mit Behinderung, als dass sie sich mit ihr selbst unterhalten. In den meisten Fällen gelingt eine inklusive Erzählung besser, wenn ein Abenteuer im Mittelpunkt steht, dass die Kinder mit und ohne Behinderung gemeinsam erleben. Hier bringen dann alle ihre Fähigkeiten mit ein und müssen zusammen daran arbeiten Herausforderungen zu lösen.

Positive Ideen am Ende

Das Ende eines Buches spielt eine große Rolle, da es das letzte inhaltliche Bild zeigt, mit denen die Kinder wieder in die Realität entlassen werden. Bei manche Geschichten gibt es auch ein direktes oder indirektes Fazit der Handlung. Allerspätestens hier sollte die Figur mit Behinderung als aktiver Teil der Gemeinschaft angekommen sein. Es sollte nicht darum gehen, die Behinderung wegzuwischen, sondern eine Idee davon zu geben, wie ein tolles Leben mit Behinderung aussehen kann.

Gute Kinderbücher, die sich mit Behinderung und Inklusion auseinandersetzen, profitieren von einer Vielfalt an Figuren mit Behinderung. Außerdem erzählen sie Geschichten, die von Abenteuern handeln, bei denen sich alle einbringen können, egal ob die Kinder mit oder ohne Behinderung leben. Das Ende des Buches zeichnet ein positives Bild eines Lebens mit Behinderung.

Auf diese Weise können Kinderbücher, die „Heidi-Falle“ umgehen und den Kinder von Anfang an das Gefühl mitgeben, dass sie auch mit ihrer Behinderung ein Teil unserer Gesellschaft sind.

Tanja Kollodzieyski

Über Tanja Kollodzieyski

Tanja lebt und arbeitet in Bochum. Sie hat einen Master in Allgemeiner Literaturwissenschaft und Germanistik. Online arbeitet sie mit Menschen und sozialen Netzwerken. Offline hält sie Vorträge über Inklusion und intersektionalen Feminismus. Auf Twitter teilt sie unter dem Namen "Rollifräulein" gerne ihre Begeisterung für Vielfalt, Kultur, Feenstaub und Elfenglitzer.

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