Es ist kurz nach Drei in der Nacht, als sie sich auf den Weg macht. Der Nebel hängt tief, die kleine Waldlichtung ist nur schemenhaft zu erkennen. Eine Stirnlampe leuchtet den schmalen, steil ansteigenden Weg, der hier beginnt. Geübt tastet sich Jacqueline Fritz voran: Erst die Krücken aufstellen, kurz den Halt prüfen, dann zieht sie sich mit Schwung hinterher, setzt ihren linken Fuß auf und macht den nächsten Schritt. Die 34-Jährige ist auf dem Weg zum Mittagkopf, 2249 Meter hoch erhebt sich der Gipfel über dem Tiroler Paznaun-Tal. Zum Sonnenaufgang will sie da sein.
Meter für Meter geht es höher, die Bäume werden weniger, bis nur noch Sträucher und massive Lawinenschutzgitter den Weg säumen. Man könnte jetzt ins Tal schauen – würde nicht der Nebel wie eine weiße Decke darüberliegen. Jacqueline Fritz, groß, die braunen Haare zum Zopf gebunden, Rucksack auf dem Rücken, steigt unbeirrt weiter, Krücken, Fuß, Krücken, Fuß. Ihre Gehhilfen haben extra breite Enden, damit sie auf dem unebenen Gelände Halt findet.
"Ich habe die Berge gehasst.“
Seit acht Jahren macht Jacqueline Wandertouren wie diese, geht außerdem Klettern, Bouldern und Bergsteigen. „Draußen zu sein, das ist eine andere Welt, ein anderer Rhythmus, das erdet mich“, sagt Jacqueline. Mit nur einem Bein auf Berge zu steigen, wirkt auf manche Zweibeiner ungewöhnlich. „Muss das denn sein?“, würde sie immer wieder gefragt, so die Pfälzerin.
Jacqueline war nicht ihr ganzes Leben lang auf einem Bein unterwegs. Bis sie 15 Jahre alt ist, reitet sie, tanzt auf Leistungssport-Niveau. Dann passiert der Unfall. „Ich bin beim Balletttraining umgeknickt“, sagt Jacqueline, „ein Bänderriss im Sprunggelenk.“ Eine Operation folgt, doch die Verletzung wird schlimmer. Sieben Jahre zieht sich der Kampf, bis 2009 – Jacqueline ist gerade 22 – das rechte Bein knieabwärts amputiert wird. Für die junge Frau bricht eine Welt zusammen. „Ich wollte das nicht. Lieber sterbe ich, habe ich gedacht.“
Die anschließende Reha führt sie ins Allgäu. Ausgerechnet. „Ich habe die Berge gehasst“, erinnert sich Jacqueline. Weil sie aber unter der Woche oft allein ist, zwischen Orthopädiehaus und Reha-Zentrum pendelnd, will sie wenigstens am Wochenende unter Freunden sein – doch die gehen wandern. Jacquelines Ehrgeiz ist geweckt, sie trainiert heimlich und wandert am Ende der Reha mit auf eine Hütte. „Das war nichts Großes, aber es hat Spaß gemacht“, sagt sie. Jacqueline beginnt regelmäßig zu wandern, auf Krücken die Allgäuer Alpen rauf, immer weiter und höher.